LOU REED, Transformer – OCB’s Radiofabrik-Album-der-Woche
Im Sommer 1970 stieg Lou Reed bei The Velvet Underground aus. Trotz dreier – heute als Meilensteine gefeierter, damals weittestgehend ignorierter – Alben und einer ausführlichen Tour, die den größten Teil des Jahres 1969 ausfüllte, sah sich das Mastermind der Velvets in einer Sackgasse. Dass er der verbleibenden Band, die bald kein Originalmitglied mehr aufweisen sollte, mit Sweet Jane und Rock’n’Roll erste Hitnummern hinterließ, war zum Zeitpunkt des Ausstiegs nicht absehbar, doch Reed sollte die Songs sehr bald in sein Repertoire übernehmen.
Der Rückzug Lou Reeds aus dem Musikgeschäft in den Familienbetrieb seines Vaters sollte nicht lange dauern. Bereits im Herbst 1971 brach der New Yorker Musiker, nunmehr ohne fixe Band an seiner Seite, nach London auf, um dort für RCA sein erstes Soloalbum einzuspielen. Trotz namhafter Unterstützung (u. a. durch Tastengenie Rick Wakeman) und zahlreicher in VU-Zeiten bereits erprobter Songs geriet das Debüt zum kommerziellen und künstlerisch Fehlstart.
Doch anstelle dem Album nun durch eine Tour auf die Sprünge zu helfen, entschied sich Reed durchaus überraschend dafür schnellst möglich einen neuen Longplayer aufzunehmen. Unterstützt wurde diese eigenwillige Entscheidung durch den Umstand, dass sich ihm der im Sommer 1972 als „Ziggy Stardust“ zum Superhype aufsteigende David Bowie, seinerseits glühender Verehrer von Reeds Songwriting, als Produzent antrug.
Und so saß Reed im August 1972 wieder in einem Londoner Aufnahmestudio, dieses Mal umgeben von Studiomusikern, die Bowie eiligst zusammengetrommelt hatte. Mit dabei war auch Mick Ronson, der geniale Arrangeur und Gitarrist, an Bowies Seite. Im Gegensatz zum Vorgänger verzichtete Reed dieses Mal auf altes Songmaterial und ließ sich vom Duo Bowie/Ronson auch bei den Arrangements weitestgehend leiten. Die Brücke zu seinem bisherigen Schaffensumfeld wollte Reed wohlweislich aber nicht abbrechen und so wurde Transformer zum eigentlichen Anschlussstück an VU-Zeiten. In etlichen Songs tummeln sich schrille, der New Yorker Szene und speziell dem Umfeld Andy Warhols entnommene Charaktere. Andy’s Chest – ein Track, der dem in VU-Kreisen als „Lost Album“ bezeichneten Werk entnommen ist – bringt Reeds Mentor direkt ins Gespräch. Vicious soll auf einen Wunsch Warhols hin entstanden sein und enthält die grell-homoerotische Zeile „You hit me with a flower!“. New York Telephone Conversation widmet sich der Szene-Sucht nach Small Talk und Oberflächlichem.
Das größte Denkmal für Warhol’s Clique setzte Reed allerdings mit seinem ersten echten Single-Durchbruch: Walk on the Wild Side. Ohne Umschweife und Worthülsen gewährt Reed Einblicke in das bunte Treiben in und um Warhols „Factory“: Transsexualität, Drogenmissbrauch und Oralverkehr. Musikalisch unverwechselbar wurde Walk on the Wild Side vor allem durch Herbie Flowers‘ doppelten Bass – Kontra- und E-Bass, wodurch Flowers auch seine Studiogage verdoppeln konnte – und das abschließende Saxophon-Solo, das gerne fälschlicherweise David Bowie zugeschrieben wird, tatsächlich aber von dessen Sax-Lehrer Ronnie Ross eingespielt wurde.
Hangin‘ ‚Round erinnert an Wild Child aus dem Vorgängeralbum und etabliert Reed als „New Dylan“, verdankt seinen locker treibenden Groove Mick Ronson’s Gitarre, ähnlich wie I’m So Free und Wagon Wheel, das Bowie zugeschrieben wird. Stimmlich hörbar wird das Produzentenduo in der Coda zu Satellite of Love, einem eigentlich für das letzte VU-Album Loaded aufgenommenen Song. Als Arrangement-Meisterstück bezeichnet Reed selbst Ronsons Streichersatz zu Perfect Day, einem romantischen Kleinod in ¾-Takt, das 25 Jahre später mit einem veritablen Who’s-Who der Rockbranche als Line-Up dem Wohltätigkeitsfonds BBC Children in Need über 2 Mio. £ einspielte.
Als perfekte Sperrstunden- bzw. Schlussnummer erweist sich Goodnight Ladies. Herbie Flowers (an der Tuba) hatte auf Bowies Geheiß kurzerhand eine Dixieland-Band zusammengetrommelt, die der traurigen Schilderung eines einsamen Fernsehabends einen bizarr amüsanten Kontrapunkt schenkt.
Transformer und Walk on the Wild Side verschafften Lou Reed auf beiden Seiten des Kontinents Top-20-Platzierungen in den Hitparaden und so heuerte er The Tots, eine weitestgehend unbekannte Bar-Rock-Kombo an, um ihn durch die USA und nach Europa zu begleiten. Auch wenn etliche aufwendig und facettenreich arrangierten Songs von Transformer nicht ins live-Repertoire passten, stellten Satellite of Love, Vicious, später auch Perfect Day und vor allem Walk on the Wild Side jahr(zehnt)elang Show-Höhepunkte dar. Reed selbst erläuterte in einem 11-minütigen Monolog auf dem Live-Album Take No Prisoners Herkunft und Entstehung des Songs.
Selbst wenn Transformer nach wie vor als Reeds bestes Album gilt und von zahlreichen Rockmagazinen zu den Top-Rock-Alben aller Zeiten gewählt wurde, fällt das Urteil des Künstlers selbst zurückhaltend aus und schon damals war Lou Reed offenbar mit dem Ergebnis, nicht restlos zufrieden. Auch der Umstand, dass Bowies Namen allzu stark mit Transformer verknüpft wurde, schmeckte dem egozentrischen Songwriter nicht. So fand sich, als Reed schon ein Jahr nach der Veröffentlichung von Transformer wieder im Aufnahmestudio stand, niemand aus dem „Erfolgsteam“ wieder.
„Hörenswert – das Radiofabrik-Album der Woche“ präsentiert anlässlich seines 40. Geburtstags Lou Reeds Transformer und bringt als Bonus-Tracks zwei Demo-Versionen, zwei live-Nummern, die wenige Tage nach der Veröffentlichung in New York entstanden sind, und die Radio-Werbung zu Transformer.
OCB wünscht viel Spaß mit einem Albumklassiker aus dem Jahre 1972.
PLAYLIST (des Albums)
Vicious
Andy’s Chest
Perfect Day
Hangin‘ ‚Round
Walk on the Wild Side
Make Up
Satellite of Love
Wagon Wheel
New York Telephone Conversation
I’m So Free
Goodnight Ladies
Bonustracks (der Sendung)
Radio-Ad
Hangin‘ ‚Round (Acoustic demo)
Perfect Day (Acoustic demo)
Vicious
Satellite of Love
Walk On The Wild Side (alle live NYC, December 1972)
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