LOU REED, Berlin – OCBs Radiofabrik-Album-der-Woche

29.09.2013

Endlich lief es gut für Lou Reeds Solokarriere. Nach dem Flop seines Solodebüts hatte sich das ehemalige Mastermind der Velvet Underground auf die helfenden Hände von Mick Ronson und David Bowie bei der Produktion seines Zweitlings Transformer verlassen und mit Walk on the Wild Side prompt den ersten (und einzigen) Hitparadenerfolg gelandet. Auf der Modewelle des Glam-Rock reitend, verpasste er sich zudem ein aufreizendes Image und bespielte zahllose Bühnen auf beiden Seiten des Atlantiks. Und so war Lou Reed im Frühjahr 1973 so populär geworden, dass ihn die Leser des NME im Popularitätsranking sogar vor Mick Jagger und David Bowie stellten.

Doch hinter dieser Fassade waren schon wieder dunkle Wolken aufgezogen. Die ausführliche Tournee zehrte an Lou Reeds Nerven und seine Live-Band The Tots erwies sich oftmals als hölzern und in ihren musikalischen Möglichkeiten begrenzt. Zudem wurmte ihn die Tatsache, dass er in fast jedem Interview zu Transformer mehr über David Bowies Rolle dabei erzählen musste, als über seine eigene. Um diesem Ungemach zu entfliehen verfiel Reed zunehmend in die (Selbst-) Zerstörung durch steigenden Alkohol- und Heroinkonsum und ließ in Folge Wut und Zynismus freien Lauf. Musikjournalisten mieden den unberechenbaren Rocker zunehmend.

Und so wurde seine Ehefrau Bettye zum ersten Opfer ihres groben Gatten. Erst seit Jänner 1973 verheiratet ließ Lou keine Gelegenheit aus seine (vermeintliche) geistige Überlegenheit Bettye gegenüber auszuspielen und sie, während sie sich ihm in Ergebenheit und Ehrfurcht immer weiter unterordnete, auch öffentlich zu demütigen und sogar zu misshandeln. Dazu kamen noch das aufreibende Leben auf Tournee und die Begleiterscheinungen von Lous weiterhin steigender Popularität. Im Sommer 1973 hatte Bettye bereits einen Selbstmordversuch hinter sich, dessen Scheitern sie zusätzlichem Spott aussetzte. Lou hingegen hatte den Stoff für sein nächstes Album beisammen.

Während die Popwelt hoffnungsfroh auf ein zweites Transformer wartete und RCA darauf vertraute die Label-Kollegen Bowie und Reed würden ihre Zusammenarbeit gewinnbringend fortsetzen, holte Lou überraschend Bob Ezrin, der sich als Partner von Schock-Glam-Rocker Alice Cooper einen Namen gemacht hatte, an Board. Mit dem höchsten Budget, das für ein Lou Reed/Velvet Underground Album jemals zur Verfügung stand, ausgestattet, rief er mit Ezrin eine Band zusammen, die einem Who-is-Who der Musikgeschichte gleicht: Neben den kongenialen Gitarristen Steve Hunter und Dick Wagner fanden sich Jack Bruce (b), Steve Winwood (org), Aynsley Dunbar (dr), Randy und Michael Brecker (sax, tr) und Tony Levin (b) im Studio ein.

Auf dem Plan stand, die düsterste und deprimierende Geschichte eines sich auseinander lebendenden Paares musikalisch umzusetzen, deren Zweisamkeit in Zynismus, Untreue, Gewalt, Drogensucht, Prostitution und Selbstmord endet. Ohne bis dahin jemals dort gewesen zu sein, wählte Reed die geteilte Stadt Berlin als symbolträchtiges Setting für seinen musikalischen film noir. Die Songlist bestand – wie oft auf den 70er-Alben Reeds – zur Hälfte aus bis dahin unveröffentlichten, „übrig gebliebenen“ VU-Songs und neuem Material.

Nach einem feuchtfröhlich gegrölten Happy Birthday bringt der Titelsong/Opener Berlin bereits ein Eigenzitat aus seinem Debütalbum, durch seine Reduktion auf zwei Strophen – die B-Teile/Bridges werden ausgelassen – und Bar-Piano in dunkelgraue Farbe getaucht, lassen die Schlußzeilen „… it was very nice, oh honey, it was paradise“ jedoch nur wenig Gutes erahnen. Die folgenden Lady Day und Men of Good Fortune, das erste eine funkige, zartbittere Hommage an Billie Holiday, das zweite ein ironischer Blick auf die unterschiedlichen Lebenschancen von Arm und Reich, ordnen sich zwar nur schwer in die Geschichte des Albums ein, dienen dafür umso passender als Stimmungsbilder.

Nach dem ersten Einblick in die apathische Haltung des Erzählers „But me, I just don’t care at all“ lernt der Hörer mit Caroline Says I die weibliche Hauptperson der Handlung kennen. Nach Candy, Lisa und Stephanie reiht sich Caroline in die Liste des „she says“-Formats in Reeds Songwriting ein und erscheint wie ein Spiegelbild von Reed selbst: Sie ist hartherzig, fordernd und sarkastisch („she wants a man, not just a boy“). Hinter der Bezeichnung „she’s still a German(ic) queen“ wollen Reed-Kenner zudem gerne einen Hinweis auf Reeds Affäre mit Nico sehen, andere wiederum vermuten hinter dem Begriff queen eher Reeds – durch sein neues Image bewusst provoziert – unklare sexuelle Ausrichtung oder vielmehr noch ein Bekenntnis zu bi- oder homosexueller Liebe. Dem druckvollen Beat und üppig arrangierten Rock erwächst dabei ein beinahe bedrohliche Kraft, die sich im ausklingenden Gitarrenduell von How Do You Think It Feels? wiederfindet. How Do You Think It Feels? erkundet die Gefühlslage des Erzählers: Zwischen Alkohol, Schlaflosigkeit, drogenbedingter Isolation und sexueller Gier bewegt er sich auf den Abgrund zu. Untreue, Verlogenheit, Gewalt und (Selbst-)Hass, wie sie Oh Jim zeichnet, verdeutlichen eine Borderline-Situation, die in den Augen vieler Kritiker und Fans ein Spiegelbild von Reeds Gefühlswelt zu diesem Zeitpunkt darstellt.

Mit dem Ende der ersten Schallplattenseite/des ersten Teils hat Berlin ein Stimmungsbild erschaffen, das erschütternder kaum sein könnte, und im Gegensatz zu seinem schwul-fröhlichen Vorgänger Transformer kein Lächeln zulässt. Mit der Verdichtung der Handlung auf Seite 2/im zweiten Teil erreicht das Album jedoch eine Intensität und Graustufe, die vielen Hörern und Kritikern zu intensiv wurde.

Caroline Says II – ein gebremstes Remake von Stephanie Says aus VU-Zeiten – zeigt uns die zuvor noch hochmütige Protagonistin am Boden, von Drogen gezeichnet, geschlagen und gebrochen. „Why is it that you beat me?“ fragt sie und wird mit Sarkasmus („all of her friends call her Alaska“) belohnt. Wie sehr dieser Song der Realität des Ehepaars Reed sich nähert, lässt sich erahnen, wenn man einen Interviewbeitrag Lou Reeds aus diesem Jahr kennt: „Ich brauche ein weibliches Arschloch in meiner Nähe, um mich daran zu ergötzen; ich brauche einen ergebenen Arschkriecher, den ich herumstoßen kann.“ „It’s so cold in Alaska„.

Als vermeintliche Rechtfertigung und Strafe für Carolines Prostitution –„they say she was making it with sisters and brothers“, ihren Drogenmissbaruch („and all of the drugs she took everyone„) und mangelhaftes mütterliches Verhalten („she was not a good mother„) verliert sie ihre Kinder. The Kids – drei Akkorde in unbeschwerten 3/4–Takt gehüllt – stellt dabei eines der ambivalentesten Stücke der Popmusik dar: Dem betont unterkühlt vorgetragenen Text stellt die Mannschaft um Produzent Bob Ezrin eine bitter-süße Atmosphäre entgegen, die in unvergleichlich eindrucksvoller Weise musikalisches Handwerk, Reduktion und Leichtigkeit vereinen. Nicht zu Unrecht gilt Berlin für viele Musikliebhaber und -kritiker in dieser Hinsicht als Reeds frühes und bis heute unerreichtes Meisterstück.

Für den Höhepunkt von The Kids soll – der Legende nach – Bob Ezrin seinen Kindern weiß gemacht haben, ihre Mutter würde nicht mehr zurückkommen. Das dadurch provozierte, auf Band festgehaltene Heulen, Winseln und „Mummy“-Rufen der Kinder am Ende von The Kids ging und geht heute noch nicht nur Eltern durch Mark und Bein. Vielen Hörern wurde und wird es hier zu viel. Der abermals betont unterkühlte Nachsatz des Erzählers „and I am much happier this way“ spiegelt sich im folgenden „Funny thing, I’m not at all sad that it stopped this way“ (The Bed) wider, mit dem Carolines Selbstmord kommentiert wird. Doch in Anbetracht des Betts, wo sie einst ihre Kinder empfing und sich dann die Pulsadern aufschnitt, der kleinen und großen Erinnerungsstücke in dem Haus, das sie sich so mühsam erarbeitet hatten, klingen die Worte nun gebrochen und traurig, der Verlust nagt. Engelschöre markieren Carolines Entschweben aus dem Irdischen. Am Boden geblieben resümiert der Erzähler, wie alles so schön begonnen hatte („she looked like Mary Queen of Scotts“) und doch so daneben lief („just goes to show how wrong you can be“). Sad Song beschließt das emotional aufwühlendste Rock-Album bis dato. Dabei verschafft das große Finale mit deftigen Streichern und einem butterweichen Bläsersatz zum Ausklang dem Zuhörer Erlösung und Erleichterung und setzt der herausragenden Arbeit des Produzenten Bob Ezrins ein Denkmal.

Dafür hatte Ezrin allerdings auch seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt. Im Versuch Lou Reeds Launen, seine Wankelmütigkeit und den Umstand, dass der Rockstar oftmals zu betrunken war um seine (Sprech-) Gesangsparts einzubringen, zu verdauen, griff auch Ezrin häufig zu Heroin. Als RCA kurz vor Ende der Aufnahmen verlauten ließ, sie würden lieber kein Doppelalbum veröffentlichen und Ezrin das fertige Werk um 14 Minuten kürzen musste – die verlorenen Minuten sind entgegen den üblichen Gepflogenheiten seitdem weder auf Bootlegs noch auf Re-releases wieder aufgetaucht – half dem Produzenten nur noch eine mehrmonatige Entziehungskur, um sein Leben wieder unter Kontrolle zu bringen.

Lou Reed hingegen kehrte schon bald wieder auf die Bühne zurück. Während die Musikpresse über Berlin fiel und mit deftigsten Abkanzelungen abtat, zeigten Fans und Musikfreunde nur Unverständnis und Ablehnung für Lous „Anti-Transformer„. Das wiederum nährte Reeds Destruktivität und Hass. Er radikalisierte sein Auftreten weiter, stellte eine nun deutlich kräftiger rockende Band (mit den Berlin-Musikern Hunter und Wagner) zusammen und gab fortan das Rock’n’Roll Animal, wovon das so betitelte Live-Album zeugen sollte. Wenige Monate später löste er auch den zweiten Teil seines Versprechens gegenüber RCA ein, das er abgegeben hatte, um das Label überhaupt erst zur Veröffentlichung von Berlin überreden zu können, und lieferte mit dem Album und der gleichnamigen Single Sally Can’t Dance einen Verkaufsrenner ab, der allerdings den Vergleich mit Berlin in keiner Weise standhält.

Die erhoffte Anerkennung wurde Berlin erst im Lauf der frühen 80er-Jahre zuteil, indem Kritiker begannen ihre vernichtenden Erstmeinungen zu revidieren und dem mittlerweile immer mehr im Mittelmaß versinkenden Reed Anerkennung zollten. 2006 brachte Reed mit Steve Hunter in der Band Berlin etwas überraschend zum ersten Mal zur Gänze auf die Bühne und gab sich redlich Mühe seinen über die Jahre immer schlampiger gewordenen Sprechgesang am Original zu orientieren. Der von Julian Schnabel dabei entstandene Konzertfilm ist allerdings entbehrlich.

„Hörenswert – das Radiofabrik-Album der Woche“ präsentiert anlässlich seines 40. Geburtstags Lou Reeds Berlin und bringt als Bonus-Tracks zwei Aufnahmen, die in Paris während der Live-Tournée 1973/74 entstanden sind. Oliver Baumann wünscht gute Unterhaltung mit einem Albumklassiker aus dem Jahre 1973.

Playlist (des Albums)
Berlin
Lady Day
Men Of Good Fortune
Caroline Says I
How Do You Think It Feels
Oh Jim
Caroline Says II
The Kids
The Bed
Sad Song

Bonustracks (der Sendung)
Lady Day
Oh Jim (beide live in Paris, Mai 1974)

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