23 – Michaela Ralser (Innsbruck) Heilpädagogische Landschaften. Schwellenräume zwischen Medizin und Pädagogik

18.07.2017

Heilpädagogische Landschaften. Schwellenräume zwischen Medizin und Pädagogik.
Michaela Ralser (Innsbruck)

Mit Ausnahme von Wien, wo eine frühe heilpädagogische Institutionenbildung schon 1911 einsetzt, entstehen in unmittelbar zeitlicher Folge zur Errichtung der Innsbrucker Kinderbe­obachtungsstation im Jahr 1954 eine Reihe funktionsgleicher Einrichtungen in ganz Österreich. Parallel zur Intensivierung der Heimerziehung in den beiden Nachkriegsjahrzehnten – nie zuvor und nie wieder waren derart viele Kinder in Erziehungsheimen untergebracht – etablierte sich ein österreichweites Netz von Heilpädagogischen Ambulatorien, Beratungsstellen, stationären Einrichtungen und Kinderbeobachtungen. Welchen Namen sie auch trugen – es handelte sich durchwegs um Einrichtungen, die innerhalb der jeweiligen Region – wie schon das Innsbrucker Beispiel zeigt – eine Monopolstellung hinsichtlich der Beurteilung und „Verteilung“ von Kindern und Jugendlichen erreichten, die entweder in den Fokus der Fürsorge gerückt waren oder von Schulen, ÄrztInnen und Eltern – immerhin 60 % der Zugewiesenen – als erziehungsschwierig und verhaltensauffällig angesehen wurden und auf diesem Weg in eine dieser neuen mediko-pädagogischen Orte der langen 50er Jahre zur Begutachtung und Behandlung gelangten. Alle Einrichtungen standen – ein österreichisches Spezifikum – unter ärztlicher Leitung: Ihre Leitungsfiguren waren Kinderpsychiaterinnen, Neurologinnen oder Pädiater. Sie alle verband eine Bildungs- oder Berufssozialisation im Nationalsozialismus und eine Verwurzelung im diagnostischen Inventar der Jahrhundertwendepsychiatrie, welche begonnen hatte, soziale Devianz als soziale Pathologie zu deuten. Für Österreich gilt, dass die Psychiatrie bis in die 1960er Jahre im Wesentlichen dem naturwissenschaftlichen Paradigma verpflichtet war und darin vor allem erbbiologisch und artungstheoretisch argumentierte. Auch die österreichische Heil- und Sonderpädagogik ist wie die deutsche mehrheitlich klinisch orientiert: sie setzte lange auf die Medizin als Erklärungsmodell für kindliche Abweichung und jugendliche Verhaltensauffälligkeit. Sie favorisierte lange eine exkludierende Sonderpädagogik und ermöglichte der Kinderpsychiatrie und Pädiatrie die Ausdehnung ihres Deutungsanspruchs ins Feld der Pädagogik. Gemeinsam nun lieferte die mediko-pädagogische Expertise dieser beiden Wissensgebiete das Passpartout für den unbestimmten Rechtsbegriff der Verwahrlosung. Die als erziehungsverwahrlost bezeichneten Kinder und Jugendlichen waren nun einer weiteren Zumutung ausgesetzt: ihrer vermeintlich unzulänglichen Natur, die nun als krankhaft deviant, als anlagebedingt deformiert und prognostisch kriminell gedeutet wurde. Der Vortrag versucht die longue durée der medikalen Umklammerung der um 1900 einsetzenden neuen Sorge um das Kind am Beispiel der Fürsorgeerziehung in Österreich zu rekonstruieren, den Beitrag  der Kinderbeobachtungen daran zu ermessen – schließlich  waren sie angetreten, das Feld der Fürsorge zu professionalisieren und den Entscheidungsvorgängen und Maßnahmen­empfehlungen zur öffentlichen Ersatzerziehung eine psychiatrisch-heilerzieherisch informierte, wissenschaftliche Grundlage zu verschaffen – und zuletzt einzuschätzen, welchen Anteil letztere an der bis in die 1980er Jahre anhaltenden medikal orientierten Erziehungs- und Behindertenhilfe hatten.

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Medikalisierte Kindheiten – Die neue Sorge um das Kind vom ausgehenden 19. bis ins späte 20. Jahrhundert

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