Zeit und Lebenszeit (Perlentaucher CLXVI)
Hast du Zeit? Anhand dieser einfachen Frage, die noch dazu in unendlichen Variationen durch unser Leben geistert, wollen wir die Beziehung des Menschen zur Zeit hinterfragen. An dem Punkt tauchen auch schon die ersten Abzweigungen im Gedankengang auf, nämlich “zur Zeit überhaupt” oder “zur eigenen Zeit” (die man sich nimmt und über die man bestimmt). Da liegt es nahe, “Lebenszeit” einmal unbedingt nicht als Lebensspanne oder Lebenserwartung zu begreifen, sondern (indem wir den Wortteil Leben betonen) als eine mit mehr oder weniger Lebendigkeit versehene Gegenwart. Und dieses mehr oder weniger unterliegt unserer eigenen Entscheidung, nicht einer von irgendwo sonst vorgegebenen Taktfrequenz. Wir selbst sind gestaltende Gestalten. Das ist der Sinn.
Ich habe keine Vorstellung davon, was Zeit eigentlich sein soll. Dauer? Abfolge? Termin? Wenn ich wissen will, wie lange ich geschlafen habe, dann bin ich auf das runde Zifferblatt einer analogen Uhr angewiesen. Mit meinem imaginären Finger zeige ich auf den Punkt des Schlafengehens und fahre dann die Strecke bis zum Punkt des Aufstehens, damit ich mir die Dauer meines Schlafs bewusst machen kann. Heute wie vor knapp 60 Jahren. Ein meiner Denkstruktur entsprechender Prozess, mir eine Gegebenheit der Außenwelt zu vermitteln, zugänglich zu machen und anzuverwandeln, so dass ich damit gestalterisch handelnd umgehen kann. Wenn jetzt jemand anderer bei der gleichen Fragestellung (wie lang hab ich geschlafen?) Zahlen sieht und im Geist eine Rechenoperation durchführt, dann ist das seine/ihre Herangehensweise und es gibt keinen Grund, das als irgendwie besser oder schlechter zu bewerten. Wenn mir aber jemand damit kommt, ich müsste das auf dieselbe Weise können, dann wirds ÜBEL.
Es ist schlicht nicht einzusehen, dass eine bestimmte Weise, die Welt zu sehen und mit ihr umzugehen, als verpflichtende Norm für alle angenommen wird und dass deswegen alle, die dieser Norm nicht entsprechen, als Abweichler pädagogisch sonderbehandelt werden. Ich wähle diese Worte mit Bezug zur “schwarzen Pädagogik” hier bewusst, auch wenn die zwischenzeitlichen Entwicklungen des Konzepts der “Neurodiversität” in eine immerhin menschlichere und integrativere Richtung weisen. Doch nach wie vor höre ich den Satz eines meiner Projektpartner aus den 90ern nachhallen: “Hier wird der freie Wille freundlich umgebogen.” Er hatte ihn genau darauf bezogen, dass Kinder, die “irgendwie anders” waren, früher mit körperlicher Gewalt “gebrochen” und dadurch zur Anpassung “umerzogen” wurden, wogegen sie heute mit freundlicher Ermutigung (aber halt auch mit psychischem Druck) dazu gebracht werden, sich in eine nach bestimmten (und nicht zu hinterfragenden) Regeln funktionierende Normgemeinschaft “einzufügen”, also sich wiederum “anzupassen”. Und diese Kritik muss, wiewohl es durchaus anzuerkennende Verbesserungen und Reformen gibt, bestehen bleiben, bis grundlegendere Veränderungen eintreten.
Es ist noch gar nicht lange her, da habe ich eine Dokumentation über den weltweit zunehmenden Bedarf an Rohstoffen und ihre jeweiligen Fördermengen gesehen. Es wurden Grafiken der für die nächsten Jahre abzusehenden Entwicklung gezeigt und ich begriff augenblicklich, dass sich das nie und nimmer ausgeht. Dazu brauchte ich, auch wenn man das im Gynasium von mir verlangt hätte, um so ein Ergebnis in seiner Herleitung für jemand anderen nachvollziehbar zu machen, keine Rechenoperation. Das große Ganze oder einen komplexen Sachverhalt sozusagen “auf einen Blick” zu erfassen und daraus zutreffende Ergebnisse abzuleiten, das ist die eine Sache. Dies dann auch für andere Wahrnehmungsarten verstehbar zu machen, es in eine andere “Sprache” des Welterfassens und Begreifens “zu übersetzen”, das ist die andere. Diese anspruchsvolle Aufgabe erfordert genau die geistigen und seelischen Ressourcen, die derzeit zum größten Teil im Anpassenmüssen verbraucht werden.
Nimm dir die Zeit …
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