Wir waren das Bauvolk – Erinnerungen an die Zukunft – Zum 12. Februar 1934
Ich habe meine Großeltern nicht gekannt. Die Eltern meines Vaters sind in der Gaskammer von Treblinka ermordet worden. Der Vater meiner Mutter ist an den Spätfolgen einer Weltkriegsverletzung gestorben, als sie knapp drei Jahre alt war. Ihre Mutter ist an den Folgen einer unsachgemäß durchgeführten Abtreibung gestorben, als meine Mutter fast zehn war.
Der Vater meiner Mutter hatte zwei Schwestern, die unverheiratet geblieben waren. Bei denen ist meine Mutter dann aufgewachsen, nachdem sie noch zwei schreckliche Jahre in einem faschistischen Waisenhaus verlebt hatte. Das waren meine Ersatzgroßmütter, die Hilda-Tant und die Wicki-Tant. Nachdem sie aber fast immer gemeinsam auftraten, hießen sie nur „die Tanten“.
Die beiden sind 1897 und 1898 geboren, als elftes und zwölftes Kind ihrer Eltern. Hutstaffiererin haben sie gelernt. Im ersten Weltkrieg war die eine Straßenbahnschaffnerin und die andere hat in einer Munitionsfabrik gearbeitet. Nach dem Krieg waren sie in der Hutfabrik Gebrüder Böhm als Saisonarbeiterinnen beschäftigt. Durch die ständigen Arbeitsunterbrechungen sind sie nie in den Genuss eines bezahlten Urlaubs gekommen. In den Dreißiger Jahren waren sie arbeitslos. Als ich ein Kind war haben sie in Heimarbeit Schleifen für die Bonbonnieren der Heller-Zuckerlfabrik gemacht.
Die beiden sind in eine sozialdemokratische Familie hineingeboren. Ihr Vater hat die Gewerkschaft der Metalldrücker in Österreich gegründet. Als junge Mädchen sind sie schon in die Partei eingetreten, gleich nach dem Weltkrieg. Sie gehörten immer zu den Linken in der Partei und nach dem Februar 34 sind sie dann Kommunistinnen geworden. Warum sie nie geheiratet haben? Zuerst mussten sie für ihre Eltern sorgen, denn für die hat es noch keine Altersrente gegeben. Der Vater ist 1925 mit 70 Jahren gestorben, die Mutter 1929. Ein Jahr nach dem Tod der Mutter ist ihr älterer Bruder gestorben, mein Großvater, und sie haben ihm am Totenbett versprochen, meiner Großmutter und den Kindern beizustehen. Sie waren immer für alle da, für die ganze ausgebreitete Familie. Wenn sie uns besucht haben, haben sie immer etwas mitgebracht, einen Apfelstrudel oder einen Hasenbraten, und dann haben sie sich nicht zum Tisch gesetzt, um Kaffee zu trinken, sondern sind in die Küche gegangen um Geschirr abzuwaschen oder haben meine Mutter gefragt, ob sie nicht zum Bügeln oder zum Stopfen hat. Ihr ganzes Leben sind sie in der Wohnung geblieben, in der sie aufgewachsen sind, Buchengasse 100, im Parterre, Zimmer, Kuchl, Kabinett, Wasser und Klo am Gang.
Ihr jüngster Bruder, der Otto-Onkel, war 1923 dem Schutzbund beigetreten. Er war Adjutant des Kommandanten Major Eifler. 1927 ist er aus Enttäuschung über das Versagen der Sozialdemokraten beim Justizpalastbrand aus dem Schutzbund ausgetreten. 1934 hat er im Simmeringer E-Werk gearbeitet, und er war es, der den entscheidenden Hebel heruntergedrückt hat, um den Strom auszuschalten und das Signal zum Generalstreik zu geben. Nach den Kämpfen haben ihn die Tanten dann versteckt. In der Nazizeit haben sich die Genossen von der Roten Hilfe in der kleinen Wohnung in der Buchengasse getroffen. Der Otto-Onkel hat als Gemeindebediensteter für die Rote Hilfe Lebensmittelkarten gefälscht. Und als er dann in Mauthausen im KZ war, haben ihn die Tanten besucht und ihm Lebensmittel ins Lager geschmuggelt.
Solche waren das, diese Tanten. Und am 1. Mai sind sie marschiert. Hinter der roten Fahne. Als ich sie gekannt habe, war es die Fahne der Kommunisten. Und haben gesungen:
„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt
wir sind der Sämann, die Saat und das Feld
wir sind die Schnitter der kommenden Mahd
wir sind die Zukunft und wir sind die Tat.
So flieg, du flammende, du rote Fahne
voran dem Wege, den wir zieh‘n,
wir sind der Zukunft getreue Kämpfer
wir sind die Arbeiter von Wien.“
Diese Frauen, die nie etwas gekannt haben als Arbeit und Kampf, Kampf und Arbeit, sie waren sicher: „Wir sind die Zukunft“, „Wir sind die Tat“.
Und so wie sie sind vor 1933 Zehntausende marschiert, Hunderttausende, hinter der roten Fahne der Sozialdemokratie. Sie sind aus ihren Elendswohungen gekommen, schlecht ernährt, müde vom Hackeln in der Bude, müde vom ewigen Sparen und Rechnen, müde vom Ausbessern der Kleider für die Kinder, müde davon, das Essen für die Familie zusammenzukratzen, müde vom Anstellen um die Arbeitslosenunterstützung. Sie haben ihre besten Kleider angezogen, um den Tag der Arbeit zu feiern. Und sie waren sich sicher: „Wir sind das Bauvolk, wir sind die Zukunft, wir sind die Arbeiter von Wien!“ Sie waren stolz, Arbeiter und Arbeiterinnen zu sein, stolz, Proletarier zu sein.
Meine Tanten, sie waren sich sicher, dass sie kommt, die große Zukunft, dass sie kommt, die Gesellschaft, in der es keine Klassen mehr gibt, keine Armen und Reichen, keine Ausgebeuteten und Ausbeuter. Sie waren sich sicher, dass sie kommt, die Gesellschaft, in der jeder nach seinen Kräften zum gemeinsamen Leben beisteuert und jeder bekommt, was er braucht. Sie waren sich sicher, dass die Zeit kommt, in der es keine Kriege mehr gibt. Und sie waren sich sicher, dass nicht irgend ein Erlöser diese Zukunft bringen würde, nicht ein vom Himmel gesandter und auch kein irdisches Genie, sondern dass sie selbst es waren, sie und ihresgleichen, die diese Zukunft erschaffen würden. Die Arbeiter und Arbeiterinnen.
Sie haben sich nicht als die Erniedrigten und Beleidigten gefühlt. In ihrem Bewusstsein hat die Zukunft schon Gestalt gehabt, in ihrem Herzen waren sie schon die Sieger.
Wie auch die Lüge uns schmähend umkreist,
alles besiegend erhebt sich der Geist.
Kerker und Eisen zerbricht seine Macht,
wenn wir uns rüsten zur letzten Schlacht.
Die, die im Februar 34 die Gewehre ausgegraben haben, die ich zum Kampf gestellt haben, obwohl sie gewusst haben, dass es aussichtslos war, das waren die, die sich diesen Stolz nicht nehmen lassen wollten. Die nicht die Erniedrigten und Beleidigten sein wollten. Sondern die Zukunft und die Tat.
Martin Auer – Einleitung – BY-NC-SA
NNA – Wealth Without Work – BY-NC
Franz Jurica – Bericht über die Februarkämpfe in Ottakring
? – Die Arbeiter von Wien – ?
Victor Grünbaum u.a. – Couplet des Goldschieber
VexXxeR – Ethyl – BY-NC-SA
Павкашавет бантут – Eraserhead Industrial City – BY-NC-SA
Engelbert Dollfuß – Trabrennplatzrede – Public Domain
Jura Soyfer – Ballade von der gemeinsamen Schüssel – Public Domain
VexXxeR – Penetrate – BY-NC-SA
Ilya Monosov – For Two glitching Organs – BY-NC-SA
Jura Soyfer – Mein Bruder Vagabund – Public Domain
Cian Nugent – Grass Above My Head – BY-NC-SA
Hedwig Sokopp – Bericht über die Arbeitsbedingungen im 1. Weltkrieg
Karl Münichreiter junior – Bericht über die Februarkämpfe in Hietzing
Jura Soyfer – Lied vom einfachen Menschen – Public Domain
James Beaudreau – At the Foothills – BY-NC-SA
Jura Soyfer – Dachaulied – Public Domain
? – Le Chant des Martyrs – ?
Jura Soyfer – Lied von der Erde – Public Domain
Kevin McLeod – Signation – BY
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