Vive l’Europe! #06 – “…die stärkste Stunde Österreichs”
Der 12. Juni 1994, der Tag der Volksabstimmung über den EU-Beitritt Österreichs, war für ihn ein prägendes Ereignis. Dr. Franz Vranitzky, der damalige Bundeskanzler, blickt zurück und erinnert sich an die intensiven Überzeugungsgespräche, die zu diesem entscheidenden Ergebnis führte. Immerhin, 66,58 Prozent der Wahlberechtigten sprachen sich dafür aus. In seinen Reflexionen hebt er die Gründungsideen der Europäischen Union hervor, widerlegt gegenwärtige EU-Skepsis und plädiert eindringlich, sich aktiv für demokratische Grundwerte, Demokratie und Frieden zu engagieren.
Dr. Franz Vranitzky, nekdanji avstrijski kancler, se spominja prelomnega dne 12. junija 1994, ko je Avstrija na referendumu odločala o vstopu v Evropsko unijo. Spominja se intenzivega prepričevanja, ki je vodilo do večinskega glasovanja za vstop. Vranitzky izpostavlja temeljne ideje Evropske unije in zavrača trenutne dvome o EU. Odločno poziva k aktivnemu zavzemanju za demokratične vrednote, demokracijo in mir. Nekdanji kancler meni, da je bil referendum ključnega pomena za Avstrijo in njen nadaljnji razvoj v okviru evropske skupnosti.
Herr Dr. Vranitzky, ein Blick zurück auf den Juni 1994, sie meinten damals, nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses, in einer Stellungnahme, heute sei – ich zitiere – „… die stärkste Stunde Österreichs.“ Welche Erinnerungen verbinden sie mit diesem Tag?
Die Erinnerungen führen mich zurück zu einer Situation in Österreich, in der ein Beitritt zur Europäischen Union alles andere als eine Selbstverständlichkeit war. Über viele Jahre hat man in der österreichischen Politik die Meinung vertreten, wir sind Mitglied der EFTA, also der Europäische Freihandelszone, und das genügt. Ich habe dann viele Meinungen und Zuschriften gelesen, zum Beispiel von den Wirtschaftsforschern, von den Volkswirten in der Nationalbank und von anderen, dass in Wirklichkeit eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union oder Wirtschaftsgemeinschaft, wie es damals hieß, viel nützlicher und viel zukunftsorientierter wäre, als in der EFTA zu verbleiben. Noch dazu, wo die EFTA ja schrittweise Auflösungserscheinungen zeigte und ein paar Länder schon ausgetreten sind. Aber, die österreichische Bevölkerung im Allgemeinen und die sozialdemokratische Partei im Besonderen waren auf das überhaupt nicht eingestellt, sondern haben noch gemeint, das würde irgendwie der Anschluss an Deutschland sein, der ja im Staatsvertrag verboten wurde. Das würde uns zur NATO führen, was nicht gewünscht war bis heute. Und im Übrigen, so nach dem alten österreichischen Grundsatz, das haben wir immer schon so gemacht, könnte ja jeder kommen und so weiter. Also, lange Rede kurzer Sinn, ich habe dann die Ökonomen und die Statistiker gebeten, mir umfangreiches Zahlenmaterial zusammenzustellen und habe dann begonnen, in der sozialdemokratischen Partei diese Grundidee einmal einzubringen. Und mit der Bitte, überlegt euch das, denken wir gemeinsam darüber nach. Und so war es auch. Nach der österreichischen Bundesverfassung ist es so, dass immer dann, wenn das Parlament ein Gesetz beschließt, welches die österreichische Verfassung grundlegend ändert, der Parlamentsbeschluss allein nicht genügt, sondern eine Volksabstimmung anzufügen ist. Daher musste man für diese Volksabstimmung kämpfen, so ähnlich wie man in einem Wahlkampf kämpft. Und das war eine umfassende und weitreichende politische Arbeit, wo ich aber schrittweise etwa die Sozialpartner, die Wissenschaftler sowieso und die Bundesländervertreter schrittweise gewonnen habe, sich dieser Idee anzunehmen und positiv zu überlegen. Und so kam es zu dem Ergebnis, das Sie vorher angeführt haben, nämlich über 66 Prozent. Und das war, angesichts der Vorgeschichte, also der etlichen Jahre, in der diese Idee aufgebaut werden musste und auch gegen Widerstände aufgebaut werden musste, wirklich eine starke Stunde Österreichs.
To so prve analize zgodovinskega procesa pristopa Avstrije k EU in kako si je Vranitzky prizadeval prepričati politike in prebivalstvo. Vstop v EU je bil sprejet z več kot 66-odstotno podporo in je predstavljal pomemben politični uspeh za Avstrijo.
Eine starke Stunde Österreichs, Sie haben es bereits angesprochen, Sie mussten enorme Überzeugungsarbeit leisten, damit überhaupt auch ein gewisses Bewusstsein auch in den entsprechenden Gremien geschaffen wurde. Dennoch, wie würden Sie heute die aktuelle Bilanz zu Österreich in der EU nach nun 30 Jahren Mitgliedschaft mehr oder weniger beurteilen? War es ein großer Erfolg, dass man das gemacht hat? Ist etwas nicht so gelungen, was Sie sich damals vorgestellt haben?
Gehen wir einmal vom Gründungsgedanken des Europäischen Einigungswerkes aus. Der Gründungsgedanke war der Frieden in Europa. Weil es ja über zwei fürchterliche Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keinen Frieden gab. Fast alle Nationen haben irgendwie gegeneinander gekämpft und an der Spitze der Auseinandersetzung standen immer die Deutschen und die Franzosen, also gegeneinander. Also dies waren die ersten Schritte, eine Friedensordnung zu schaffen. Wenn wir heute zurückdenken, diese 30 Jahre und noch länger, als wir noch nicht dabei waren, dann ist dieser Gedanke richtig gewesen und ist das Unternehmen gelungen. Es gibt keinen Krieg mehr zwischen europäischen Nationen. Was wir heute erleben, Russland – Ukraine, sind ja nicht die europäischen Staaten, um die es geht. Das ist (ein) zweifellos ein Erfolg, die wirtschaftliche Seite. Wenn wir uns zurückerinnern, dann waren wir, als wir nicht Mitglied waren, ja schon stark verbunden mit den Staaten in der Europäischen Union, in der damaligen, also in erster Linie Deutschland, aber auch Italien, Niederlande, sie waren ja die allerwichtigsten Handels- und Verkehrspartner. Also, wenn man nicht dabei war, dann hat man nicht dieselben Vorteile genossen, die die untereinander schon hatten. Also mit dem Tag, an dem wir beigetreten sind, haben wir dazugehört und sind nicht mehr direkt oder indirekt diskriminiert worden. Das war der größte Vorteil. Wenn wir heute sagen, naja, einen Frieden haben wir jetzt schon so lang, der wird schon nicht gefährdet sein, dann ist das hoffentlich und sicherlich für die Mitglieder der Europäischen Union zutreffend. Aber wir wissen ja nicht, wie kriegerische Auseinandersetzungen von außen nach Europa hereingetragen werden, wenn auch nur indirekt. Denken wir ans Erdgas oder Erdöl etc. Also hier ist es ganz notwendig und geboten, ein geeintes Europa zu haben. Wenn wir in die Gegenwart herüberspringen, dann sehen wir ja, dass nicht alle Österreicher hundertprozentig begeistert sind von unserer Mitgliedschaft, sondern so manche Skepsis sich entwickelt hat. Ich führe das darauf zurück, dass seit dem Beitritt, der mit großem Schwung und Elan begonnen hat, die jeweiligen Regierungen zu wenig Europapolitik gemacht haben. Und zwar Europapolitik aktiv, indem sie der Bevölkerung vermitteln hätten sollen, wie wichtig und wie notwendig es ist, nicht nur auf dem Status quo zu beharren, so jetzt sind wir dabei und bravo, alles andere interessiert uns nicht mehr, sondern man muss das weiterentwickeln. Man muss weiter zusammenarbeiten und es gibt unendliche Dinge und Wissensgebiete und politische Gebiete, wo diese Zusammenarbeit noch verbessert, verstärkt werden muss. Denken wir an ein europäisches Eisenbahnnetz, ein europäisches Energienetz und so weiter und so fort.
Vranitzky poglobljeno analizira ustanovno idejo Evropske unije, ki je prinesla mir med narodi v Evropi. Kljub notranji stabilnosti opozarja na morebitne zunanje nevarnosti, ki bi lahko ogrozile varnost v Evropi. Njegov poziv avstrijski vladi je: aktivno izvajati evropsko politiko in spodbujati evropsko idejo.
Sie haben das jetzt bereits angesprochen, eine grundsätzliche Zustimmung, ich betone, eine grundsätzliche Zustimmung, zur EU-Mitgliedschaft ist in Österreich heute nach wie vor und ähnlich wie damals bei der Volksabstimmung 1994 gegeben. Aber dennoch gibt es eine gewisse EU-Skepsis. Als Beispiel wird immer wieder auch angeführt, dass diese neoliberale Wirtschaftstendenz der Europäischen Union stärker dominieren würde und die soziale Frage eher unterbelichtet wäre, also beispielsweise der Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Würden Sie diesem Befund in irgendeiner Form auch zustimmen?
Man kann diesem Befund zustimmen, man sollte ihm aber nicht nur zustimmen, sondern alles unternehmen dagegen, dass dieser Zustand anhält und dass dieser Zustand eben von einem Teil der Bevölkerung als solcher, nämlich als ein nicht so guter Zustand, anerkannt wird. Aber man muss dann schon zurückdenken, was ist eigentlich diese EU? Sie ist ja kein Verein. Es ist keine GmbH, wo es eine Geschäftsführung gibt und eventuell einen Aufsichtsrat oder Eigentümerversammlung. Sondern, sie ist eine Konstruktion von 27 selbstständigen Staaten. Und wenn wir reden von Sozialunion, dann heißt es ja, dass diese 27 selbstständigen Staaten aufgerufen sind in ihrem Einflussbereich, nämlich in ihren Staaten, in ihren Regierungen eine gemeinsame europäische Sozialpolitik im Sinn und im Interesse der Bewohner der Union durchzuführen. Wenn von den 27 verschiedene Annäherungen an die Sozialpolitik gemacht werden, dann kommt da nichts Einheitliches heraus. Und das ist der große politische Auftrag, den sie eigentlich hätten. Hier eine gemeinsame Linie im Interesse der Staatsbürger zu definieren und auch durchzuführen.
Poudarja, da bi morale vse države članice EU stremeti k oblikovanju enotne evropske socialne politike v interesu državljanov. Zaveda pa se, da je zaradi različnih pristopov posameznih držav to težko doseči.
In einem Standardinterview vom 7. Juni 2024 meinten Sie und Sie haben es bereits auch angesprochen, dass die Regierung Sinn und Vorteil der EU-Mitgliedschaft zu wenig erklärt hätte, bzw. hat. Könnten Sie unseren Hörerinnen und Hörern diesen Gedanken noch etwas ausführlicher kommentieren?
Ja, das kann man kommentieren und man soll es auch, damit man über den Tag hinaus konstruktives zu Wege bringt. Ich bin der Auffassung, die österreichische Bundesregierung, aber die Deutschen genauso, oder alle Mitgliedsregierungen haben die Aufgabe, mit den Staatsbürgern in einen konstanten Dialog einzutreten. Was tun wir überhaupt jetzt in Europa, was ist unsere Aufgabe und wozu tun wir etwas, was wir der Bevölkerung mitteilen, und sie mitnehmen auf einem gemeinsamen Weg. Da gibt es unzählige Beispiele, wo man auch als Regierung eines kleinen Landes als Ideengeber oder Initiative voranstellend wirken könnte. Also man könnte zum Beispiel sagen, wenn wir immer wieder dafür plädieren, dass wir etwa den Güterverkehr oder auch den Personenverkehr von der Straße auf die Schiene bringen. Und gleichzeitig haben wir aber in den 27 Staaten 15 oder 18 verschiedene Eisenbahngesetze, verschiedene Eisenbahnordnungen, verschiedene Arbeitsbedingungen für die Lokomotivführer, so dass keiner von uns in Warschau in den Zug einsteigen kann und nach Lissabon fahren, unter gleichen Bedingungen. Es ändert sich dauernd. Das ist für einen so kleinen Kontinent wie Europa ein Luxus. Das ist unsinnig. Es gibt so vieles, wo man dem Staatsbürger zeigen könnte, hallo, schau was man alles tun kann und was wir tun wollen und wir setzen uns dafür ein. Wenn der Staatsbürger sozusagen alleingelassen wird, dann redet er nur …“die Bürokraten in Brüssel“… und dann kommen diese alten Kalauer wie „Gurkenkrümmung“, was immer schon ein Unsinn war, aber überhaupt keine Bedeutung hat. Das meine ich damit.
Vranitzky poudarja pomembnost stalnega dialoga med vladami in državljani v Evropi ter zahteva enotne predpise v tovornem in potniškem prometu. Poleg tega se zavzema za to, da vlade državljanom aktivno pokažejo, kaj lahko storijo, namesto da se ukvarjajo samo z birokratskimi temami, ki nimajo resničnega vpliva na vsakdanje življenje.
Eine abschließende zentrale Botschaft an unsere Hörerinnen und Hörer zu 30 Jahre Österreich als Mitglied der Europäischen Union, würde von Ihnen wie lauten?
Ich sage Ihnen an eine Zahl. Die britische Zeitschrift Economist veröffentlicht einmal im Jahr eine Statistik. Und die letzte verfügbare Statistik sagte, dass es von 167 Ländern in der Welt – also das sind eh fast alle – es nur 24 gibt mit vollständiger Demokratie. Und zusammengerechnet weit über 50 haben keine Demokratien. Haben Militärdiktaturen, Religionsdiktaturen, oder Diktaturen-ähnliche Situationen. Wenn wir also jetzt 30 Jahre Mitgliedschaft in der Europäischen Union Revue passieren lassen, dann wäre es gut und das wäre sozusagen auch meine Bitte als der, der den EU-Beitritt herbeigeführt hat, trachten wir alle danach, dass wir in diesem europäischen Zusammenleben unsere demokratischen Grundwerte nicht verlieren, sondern, im Gegenteil – weiterentwickeln. Und dann kann sich der Einzelne ja durchaus sagen, da fühle ich mich wohl. Das wären die Demokratie und der Frieden. Und das ist ganz wichtig, abschließend zu wissen oder zu erkennen: Demokratie und Frieden sind zwei verwandte Geschwister. Und es wird ja nur ganz wenige geben, obwohl (sie) es gibt, aber nur ganz wenige in unserer Zivilgesellschaft, die den Frieden nicht wollen.
Herr Dr. Vranitzky, ich bedanke mich für dieses sehr interessante, informative und ausführliche Gespräch zu 30 Jahre Österreich in der Europäischen Union und weiterhin alles Gute für Ihre politischen Aktivitäten und Ihren Einsatz für Demokratie und Frieden.
Danke für die Einladung zu dem Gespräch, es war sehr interessant.
Franz Vranitzky je bil zvezni kancler od leta 1986 do 1997. V času njegovega mandata so potekala pogajanja in pristop Avstrije k Evropski uniji. Danes 86-letni Vranitzky je še vedno politično aktiven ter se v javnosti pogosto pojavlja kot prepričan Evropejec in demokrat.
Kurzbiografie und Erläuterung:
Franz Vranitzky war von 1986 bis 1997 Bundeskanzler und von 1988 bis 1997 Bundesparteivorsitzender der SPÖ. In seine Amtszeit fielen die Verhandlungen und der Beitritt Österreichs zur EU. Der heute 86 jährige ist nach wie vor politisch aktiv und tritt immer wieder als überzeugter Europäer und Demokrat öffentlich auf. Die konkreten Beitrittsverhandlungen begannen am 1. Februar 1993 und wurden am 12. April 1994 formell abgeschlossen. Bei der anschließenden Volksabstimmung am 12. Juni 1994 sprachen sich 66,58 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher für den EU-Beitritt aus. Der Beitritt erfolgte schließlich mit 1. Jänner 1995.
Ein Dankeschön an Radio ORANGE in Wien für die zur Verfügungstellung des Studios zu dieser Aufnahme!
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