Vive l’Europe! #09 – Wahlen in Österreich: „…wir brauchen einen Pakt für Demokratie, Freiheit und Liberalität!“
Die Nationalratswahlen in Österreich am 29. September 2024 verdeutlichen einen Trend, der in vielen europäischen Ländern erkennbar ist: Regierungsparteien werden abgestraft. Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) und ihr Regierungspartner, die Grünen, verzeichnen deutliche Verluste. Die rechtspopulistische Freiheitliche Partei (FPÖ) hingegen kann beträchtliche Zugewinne verbuchen – jedoch möchte niemand mit ihrem Obmann, einem selbsternannten „Volkskanzler “ in einer „Festung Österreich“, eine Regierung bilden. Die wirtschaftsliberalen NEOS hoffen, durch ein leichtes Plus, eine Regierungsbeteiligung zu erreichen. Die sozialdemokratische Partei (SPÖ) erzielt mit rund 20 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1945 und signalisiert dennoch Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Kleinere Parteien scheiterten an der 5-Prozent-Hürde. Die Vorgaben des Bundespräsidenten lauten: Eine zukünftige Regierung muss die Grundpfeiler der liberalen Demokratie respektieren und EU-konform sein. Die Wahl zeigt einen klaren Rechtsruck und wirft die Frage auf: Wo bleiben die demokratischen Orientierungspunkte?
Einschätzungen zur aktuellen Situation kommentiert Dr. Wolfgang Petritsch, der einen generellen „Epochenwandel“ attestiert, dass man sich auf rechtspopulistische Parteien in einer Regierung nicht verlassen kann und eine neue Regierung einen „Pakt für Demokratie, Freiheit und Liberalität“ schließen müsse. Ansonsten, so das Resümee des renommierten Berufsdiplomaten und ehemaligen EU-Sonderbeauftragten für den Kosovo, wenden sich die Menschen den Rattenfängern zu.
Volitve v državni zbor nadaljujejo trend, ki ga lahko opazimo v številnih evropskih državah: vladajoče stranke so kaznovane. ÖVP in Zeleni so utrpeli velike izgube. SPÖ je z okoli 20 odstotki dosegla najslabši rezultat po letu 1945. FPÖ pa je precej pridobila, vendar nihče ni pripravljen sestaviti vlade z njenim vodjo. Vseeno volitve kažejo jasen premik na desno in postavljajo vprašanje, kje so mejne točke demokracije.
Diplomat in nekdanji posebni predstavnik EU za Kosovo, dr. Wolfgang Petritsch, komentira trenutne razmere; utemeljuje, zakaj v vladi ni mogoče računati na desne populistične stranke in išče rešitev v paktu „za demokracijo, svobodo in liberalnost“.
Herr Dr. Petritsch, wie würden Sie als langjähriger Beobachter, als Beteiligter und als Spitzendiplomat die aktuelle politische Lage in Österreich kurz nach der Nationalratswahl vom 29. September 2024 beurteilen? Vielleicht eine Einschätzung, eine erste Analyse von Ihrer Seite?
Ja, dazu ist zu sagen, dass die Wahlen nicht unerwartet so verlaufen sind und die Resultate so sind, wie Sie jetzt eben sie gerade dargestellt haben. Das hat sich schon abgezeichnet. Man muss bedenken, dass insbesondere die FPÖ schon in den letzten Jahren, sagen wir Jahrzehnten, seit 1999 genauer gesagt, einen stetigen Aufschwung, aber immer wieder dazwischen auch ein dramatisches Scheitern erlebt hat.
Zum Ersten sagt das aus, dass man sich auf rechtspopulistische nationalistische Parteien, sobald sie in die Regierung kommen, nicht verlassen kann. Sie scheitern an sich selber. Zum Zweiten ist aber festzustellen, dass jetzt mit dem neuen, nicht mehr ganz so neuen Parteichef Kickl, offensichtlich ein zu allem bereiter, höchst intelligenter, skrupelloser Politiker an die Macht gekommen ist, der es verstanden hat, die sozialen Medien, alle sogenannten Alternativen zu dem, was wir als traditionelle Medien nehmen, von den Printmedien, Zeitungen bis hin zum Öffentlich-Rechtlich-Rundfunk, hat er eben es verstanden, hier eine alternative Medienwelt aufzubauen. Die sozialen Medien, ich glaube, das sollte man auch sehen, haben die Gesellschaft und sind dabei, die Gesellschaft überall rund um den Globus grundlegend zu verändern. Das konnte von der FPÖ genützt werden, nicht so von den anderen, den traditionelleren Parteien, aber auch nicht von den neueren Parteien wie von den Grünen oder den NEOS.
Ich sehe vor diesem Hintergrund einerseits die Kontinuität rechtsradikaler Positionen, den Aufstieg der FPÖ trotz immer wieder großer dramatischer Niederlagen andererseits und die Veränderung der Kommunikationsformen – eigentlich die zwei wesentlichen Gründe für das Ergebnis.
Vor der Wahl war vielfach von einer sogenannten Zeitenwende in Österreich die Rede, ist das auch Ihre Wahrnehmung, ist diese Zeitenwende tatsächlich eingetreten aus Ihrer Sicht?
Ich muss sagen, dass ich mich in meinen Büchern sehr intensiv gerade mit dieser Frage auseinandergesetzt habe und habe schon vor fünf Jahren ein Buch geschrieben über den „Epochenwechsel im 21. Jahrhundert“, das ich als digital autoritäres Jahrhundert sehe. Also die von mir bereits angesprochene Digitalisierung aller Lebensbereiche mit den Möglichkeiten, die diese den politischen Parteien bietet einerseits und andererseits eben getrieben durch diese Digitalisierung eine stärker werdenden (Ent-)Demokratisierung, der Angriff auf die Demokratie und der Aufstieg von autoritären antidemokratischen Politikern.
Insofern kann man sagen, dass diese Zeitenwende nicht auf Österreich beschränkt ist, dass sie auch nicht von heute auf morgen eintritt oder eingetreten ist, sondern dass es hier einen gesellschaftlichen Prozess gibt, der sich schon seit langem abgezeichnet hat und der wahrscheinlich durch die Erfindung der sozialen Medien und die Verbreitung einen zusätzlichen Anstoß bekommen hat. Wir müssen denken, dass wir eigentlich hier jetzt am Ende einer liberal-demokratischen, vom westlichen System dominierten Zeit, angelangt sind. Also insofern ja, es ist eine Zeitenwende, die aber sich sozusagen über einen längeren Zeitraum erstreckt und sicher noch nicht das Ende erreicht hat.
Wie in anderen europäischen Ländern ist aber auch zusätzlich ein gewisser Trend erkennbar, dass Regierungsparteien eigentlich abgestraft, unter Anführungszeichen abgestraft, werden. Entspricht das auch Ihrer Wahrnehmung?
Zum Teil haben Sie Recht, aber nicht völlig. Ich würde sagen, dass es ja so ist, dass gerade von den populistischen Rechtsparteien immer wieder kritisiert wird und wir wissen, worum es geht. Es hat gerade die Corona-Pandemie und die Bewältigung, oder auch für manche das Versagen der Regierung in dieser Pandemie, vieles verändert in der Einstellung vieler Menschen zum Staat. Der Staat wird mehr und mehr als Unterdrückungselement empfunden und das klarerweise zahlt ein auf das Konto, im österreichischen Fall, der FPÖ. Aber wir haben natürlich hier einen gesamteuropäischen Trend.
Und hier hat mich offengesagt, besonders verblüfft die Entwicklung in den Niederlan-den. Holland hat jetzt eine vom Rechtsextremisten, Rechtspopulisten dominierte Re-gierung und war einst eines der liberalsten Länder, eine der liberalsten Gesellschaf-ten, die wir in Europa haben. Dasselbe gilt für Belgien, wo dann immer noch dort auch der Sprachenstreit dazukommt, das ethische Element, das wir erkennen auch gerade bei uns in Österreich, in Kärnten oder am Balkan, das ist dort sozusagen auch immer schon da gewesen und etwas stärkt eben durch die neuen Möglichkeiten der sozialen Medien heute. Aber diese beiden Staaten sind äußerst wohlhabend im Vergleich zu, sagen wir, den osteuropäischen Staaten, die man noch irgendwo wirt-schaftlich im Aufholprozess stehen.
Dieser Rechtsruck, den wir auch jetzt in Österreich und verstärkt in ganz Europa, so wie Sie es gesagt haben, auch erleben, sind hier grundlegende demokratische Werte eigentlich gefährdet? Ist hier eine große Befürchtung gegeben, dass das „Haus Demokratie“ stückweise zerstört wird? Ich sage es einmal so ein bisschen pointierter.
Es ist zweifellos die große Gefahr, die ich sehe. Es wird hier keinen Staatsstreich geben in Österreich, auch nicht in anderen europäischen Staaten. Aber es gibt diese Aushöhlung, die schleichende Erosion, die hier stattfindet von demokratischen Werten, von demokratischen Institutionen. Und da sind nicht nur die Rechtspopulisten beteiligt. Ich glaube, dass wir das gerade in den letzten Jahren erlebt haben, wie unter der Regierung Kurz die Justiz systematisch runtergemacht worden ist. Und die Angst ist der Treiber der Reaktion, der politischen Reaktion des Rechtsrucks insgesamt.
Herbert Kickl und seine FPÖ wollen ja unbedingt den Kanzler stellen. Da gibt es jetzt einen breiten Widerstand eigentlich von den anderen Parteien. Wie würden Sie jetzt die zukünftige Regierungsbildung einschätzen, beziehungsweise was würden Sie eigentlich als eine vernünftige Lösung empfinden?
Zwei Punkte: Zum ersten Mal muss es von jenen demokratischen Kräften, die den Fortbestand der Zweiten Republik absichern wollen, muss es hier eine wirklich ehrliche, offene Zusammenarbeit geben. Hier muss es um mehr gehen als um Parteiinteressen. Und zum Zweiten muss auf jene Fragen, die die Menschen heute stellen, ernsthafter eingegangen werden. Das ist schwierig, das ist leichter gesagt als getan, weil vieles nicht rational ist, sondern im Bereich der Gefühle angesiedelt ist und Gefühle sind immer stärker als Fakten.
Aber dennoch muss man, glaube ich, sich bemühen, dass sich die neue Regierung und ich hoffe, dass die ÖVP, in deren Hand liegt das ja – sie kann sich entscheiden: Gehe ich mit den Rechtsextremisten, oder gehe ich mit der Opposition, mit der demokratischen Opposition. Wenn diese Entscheidung getroffen wird und man eine breite, auch im Parlament breite, demokratische Grundlage hat, dann, glaube ich, wird es sehr wichtig sein, hat das auch der Bundespräsident auch schon gesagt, dass sich diese neue Koalition auf ein paar grundlegende Prinzipien einigt, wie – der Bundespräsident hat das erwähnt – eben Rechtsstaatlichkeit, aber wirklich leben und umsetzen. Dass man Europa, die Europäische Union nicht wie in der Vergangenheit immer irgendwie so schäbig runtermacht und alle Schuld in Brüssel sieht, sondern hier die Verantwortung sieht, die jedes Mitgliedsland in der Europäischen Union hat. Denn jedes Land kann mitbestimmen, bis hin zum Veto-Recht.
Also diese Vorstellung, wir kriegen aus Brüssel ein Diktat, das unlängst eine ÖVP-Ministerin auch geäußert hat, ist natürlich eine bewusste Irreführung und wiederum wird auf das Konto der FPÖ und der Europa-kritischen und Europa ablehnenden Parteien eingezahlt. Das muss man einfach sehen und das muss in Zukunft verhindert werden.
Und da muss zum Dritten die neue Regierung sich einige wenige große Projekte vornehmen, die wirklich im Interesse der Menschen liegen und die Menschen, um die es geht, das auch richtig erkennen. Das heißt aber, bevor man sowas macht, auf sie zugehen. Man muss viel mehr mit den Menschen reden.
Ich glaube, wenn es eine Regierung dieser Art, wie wir es wahrscheinlich alle wünschen, gibt, die ein Drittel ausschließt und in Opposition hält, das ist die FPÖ, die ist ja keine absolute Mehrheit, die kann keinen Volkskanzler haben ohne Koalitionen mit anderen. Nachdem sie sich aber mit ihrer radikalen Rhetorik und radikalen Ablehnung des sogenannten Systems, also unseren Status quo ablehnt, hat sie sich ja außerhalb dieses Verfassungsbogens in Wirklichkeit gestellt.
Und da muss eben jetzt dann eine neue Regierung auch so etwas wie einen Pakt für Demokratie, Freiheit und Liberalität abschließen, dass diese Regierung dann tatsächlich versucht, Projekte zu verwirklichen, die den Menschen dienen, die auf die Sorgen, auf die Ängste der Menschen eingeht. Das halte ich für eine wesentliche Sache. Denn, sobald in einer Koalition gestritten wird – und natürlich ist es in (einer) Dreier-Koalition schwieriger – verlässt die Menschen das Vertrauen und dann wenden sie sich eben diesen Rattenfängern zu.
Dr. Wolfgang Petritsch meni, da rezultati volitev niso nepričakovani. Družbena omrežja so temeljito spremenila družbo in FPÖ je to znala izkoristiti, za razliko od bolj tradicionalnih in manjših strank.
Na splošno se je ob volitvah veliko govorilo o »prelomnici« v Avstriji. Wolfgang Petritsch meni, da se bliža konec liberalno-demokratične dobe, v kateri je prevladoval zahodni sistem, vendar se to ne bo zgodilo kar čez noč. Pandemija covida-19 in za nekatere vladni neuspeh pri obvladovanju pandemije pa sta spremenila odnos do države. Državo mnogi vse bolj dojemajo kot element zatiranja in to je v avstrijskem primeru očitno prispevalo k uspehu FPÖ.
Kakšne so torej rešitve? Če želimo imeti vlado, ki ohranja FPÖ v opoziciji, se bodo morale demokratične sile lotiti poštenega in odprtega sodelovanja, tako Petritsch. Evropske unije se ne bi smelo omalovaževati kot v preteklosti, ampak bi bilo treba priznati odgovornost, ki jo ima vsaka država članica. In nova vlada bi morala skleniti pakt za demokracijo, svobodo in liberalnost, tako da bo ta vlada dejansko poskušala uresničiti projekte, ki služijo ljudem, in ki odgovarjajo na njihove skrbi in strahove, je prepričan Wolfgang Petritsch.
Der hier veröffentlichte Textbeitrag wurde in der Sendung am 4. Oktober 2024 auf Radio AGORA in einer leicht gekürzten Fassung ausgestrahlt.
Kurzbiografie
Dr. Wolfgang Petritsch ist Präsident des Österreichischen Instituts für Internationale Angelegenheiten und Präsident der Österreichischen Marshallplan-Stiftung. Der pen-sionierte Berufsdiplomat war EU-Sonderbeauftragter für den Kosovo (1998-1999), EU-Chefunterhändler bei den Kosovo-Friedensgesprächen in Rambouillet und Paris (1999) und von 2008 bis 2013 Botschafter bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit Sitz in Paris. Sein Buch „Epochen-wechsel. Unser digital-autoritäres Jahrhundert“ (2018) beschäftigt sich mit den fun-damentalen Veränderungen der globalen Ordnung. Eine aktuelle und ausführliche Biografie ist verfügbar unter: https://www.wolfgangpetritsch.com/about
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