„Victim blaming“: Ein Plädoyer. (Teil3)
„Victim blaming“: Ein Plädoyer.
„Victim blaming“. Diesmal: Ein Lehrstück.
Dritter Teil: Victim blaming, die „Täter-Opfer-Umkehr oder Schuldumkehr, wodurch die Schuld des Täters für eine Straftat dem Opfer angehängt werden soll.“ Der aktuelle Anlass, das Stichwort „victim blaming“ zu diskutieren, ist ein Prozess in Salzburg, über den im „Standard“ berichtet wurde. Dieser Bericht ist sehr aufschlussreich, und darauf beruht dieser Beitrag:
„Frauenmordprozess in Salzburg: ‘Ich habe die Beherrschung verloren’. Ein Wirt tötete seine Ehefrau in Piesendorf mit drei Messerstichen. War es geplanter Mord oder ein ‘Affektsturm’, wie es der Verteidiger nennt? Zwei sehr unterschiedliche Versionen über den Tathergang und die vorangegangene Beziehung zwischen einem angeklagten 42-jährigen Wirt und seiner getöteten Ehefrau haben die Geschworenen am Mittwoch beim Auftakt des Mordprozesses im Schwurgerichtssaal des Landesgerichts Salzburg gehört. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Pinzgauer vor, die Tat geplant zu haben und die von ihm getrennt lebende 30-Jährige im Gasthof in Piesendorf gewürgt und mit drei Messerstichen getötet haben. Der Verteidiger spricht von Totschlag und rückt das Opfer in ein schlechtes Licht.“ (Standard, 11.1.2023) (Der vollständige Text ist auch nachzulesen auf cba.media, Podcast Kein Kommentar.)
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Fortsetzung im „Standard“, vollständig: „Im Jänner 2022 hätten sich die beiden getrennt. ‘Er begann seine Frau zu überwachen, hat Standortdaten und Internetverhalten eingesehen über den gemeinsamen Google-Account’, sagt die Staatsanwältin. Der Angeklagte habe ein ‘massiv besitzergreifendes Verhalten’ entwickelt, dazu kamen tätliche Aggressionen. Einen Monat vor der Tat habe das Opfer schließlich Anzeige wegen Körperverletzung, Stalkings und gefährlicher Drohung erstattet. Bei einem Streit habe er ihr einen Stoß versetzt, sie kam zu Sturz und brach sich die Hüftgelenkspfanne. Er drohte ihr mehrfach mit Körperverletzungen (‘Ich bringe dich in den Rollstuhl’) und mit dem Tod (‘Du bist tot, du weißt es nur noch nicht’), suchte ihre räumliche Nähe und schrieb ihr mehrmals täglich. Es wurde ein Betretungs- und Annäherungsverbot gegen ihn verhängt und eine einstweilige Verfügung ausgesprochen. Den Antrag zog die Ehefrau jedoch einen Tag vor der Tat wieder zurück, nachdem der Angeklagte bei einer Besprechung bei einem Anwalt mitgeteilt habe, dass er wieder eine Freundin habe.
Am nächsten Tag, dem 13. Mai, habe der 42-Jährige dann eine Tasche mir frischer Kleidung bereitgelegt, eine Putzfrau früher gehen lassen und eine Blumenlieferung auf den Vormittag verschoben – für die Staatsanwaltschaft Vorbereitungen für die geplante Tat und anschließende Flucht. Im Gasthof gerieten die beiden dann in Streit. Der Wirt würgte die Frau und versetzte ihr mit einem 21 Zentimeter langen Küchenmesser drei wuchtige Stiche in den Brustkorb. ‘Sehen Sie sich die Lichtbilder vom Tatort an. Sie zeugen vom Überlebenskampf der Frau’, sagt die Staatsanwältin den Geschworenen.
Verteidiger Franz Essl zeichnet ein völlig anderes Bild und spricht von Totschlag. Der Mann sei gekränkt und beleidigt worden. Nach einer Operation 2018 habe er nicht mehr ejakulieren können, und so blieb der Wunsch nach einem weiteren gemeinsamen Kind unerfüllt. ‘Das hat ihn verzweifelt. Seine Frau hat nichts dazu getan, ihn aufzumuntern, sondern das genutzt, um ihn bloßzustellen’, sagt der Verteidiger. Er habe gebuttelt und gearbeitet, ‘hetzte von Lokal zu Lokal, musste sich um Lieferanten, Küche, Bestellungen und Personal kümmern’, betont Essl.
Die Frau hingegen habe sich nur schön gemacht, sich nicht um die Kinder gekümmert und nur darauf geachtet, dass sie für die Männer begehrlich sei. Der Verteidiger zählt drei Affären des Opfers auf, unterstreicht mit Google-Suchanfragen, dass sie sich nur für straffe Brüste, Kuschelhotels und Haarverlängerungen interessierte, und spricht von einem von ihr entworfenen Vertrag für sexuelle Dienstleistungen mit seinem Mandanten. ‘Sie war auch manchmal in den Gaststätten Aushilfe, hat sich als Chefin feiern lassen und hat ihn gedemütigt’, sagt Essl. Sie habe eine Abendmatura und einen Unternehmerkurs gemacht und sich selbstständig machen wollen. Den Hüftbruch habe sie selbst verschuldet und den Vorfall als gezieltes Rachemittel genutzt, behauptet Essl.
‘Vor diesem Hintergrund kam es dann am 13. Mai zum Affektsturm, der sich da entlud. Es war ein Verzweiflungszustand’, sagt der Verteidiger. Sie habe ihn auch zuerst gewürgt und zum Messer gegriffen, als es zu Boden fiel, nahm er es an sich und stach zu, ‘in einem Ausnahmezustand’, erklärt der Anwalt. ‘Es ist kein vorsätzlicher Mord, sondern eine Tötung in einem allgemein begreiflichen heftigen Gemütszustand. Er war in einer Schocksituation, hat sich aber dann freiwillig der Polizei gestellt.’
Ähnlich auch die Schilderung des Angeklagten: ‘Ich habe die Beherrschung verloren und sie ziemlich heftig gewürgt’, sagt der 42-Jährige bei seiner Befragung. Sie habe daraufhin zuerst das Messer geschnappt, es dann im Streit verloren. ‘Ich habe es reflexartig genommen und zugestochen’, sagt der Angeklagte. Danach habe er das Messer abgewaschen, ihr läutendes Handy mitgenommen und sei geflüchtet. Er habe seine Eltern kontaktiert, ihnen von dem Streit erzählt und gesagt, dass er die Frau verletzt habe. ‘Ich habe gesagt, sie sollen zu ihr schauen.’ Seine Mutter fand ihre tote Schwiegertochter. Die 30-Jährige verblutete laut Obduktionsbericht. ‘Es war nicht meine Absicht, dass ich sie tödlich verletze. Es war ein Streit, der eskaliert ist’, betont der Angeklagte. Er habe die Nacht im Keller des Lokals eines Freundes verbracht, sich aber am nächsten Tag gestellt. Seit 14. Mai sitzt er in U-Haft.
Für den Prozess sind einige Zeugen geladen, die auch Auskunft über die Beziehung der beiden geben sollen. Zudem wird ein psychiatrischer Gerichtsgutachter gehört. Am Donnerstag wird der Prozess fortgesetzt.“ (Standard, 11.1.2023)
https://www.derstandard.at/story/2000142470950/frauenmordprozess-in-salzburg-ich-habe-die-beherrschung-verloren
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„Victim blaming“ – wie geht das:
Wie der Verteidiger das macht, wenn er das Opfer in ein schlechtes Licht rückt, und was dabei zur Sprache kommt, das ist nun Thema. Die Tat ist als Faktum insofern unstrittig, als er sie erstochen hat, der Unterschied von „Vorsatz“ oder „Affekt“, der spielt eine Rolle beim Strafmaß; deswegen will die Verteidigung das Opfer eben schlecht machen. Mit diesem Bedürfnis nach mildernden Umständen sind der Angeklagte und sein kongenialer Anwalt in erster Instanz gescheitert. Deren Verteidigungsstrategie zielte darauf, dass der Täter zurecht sein impertinentes Opfer gehasst habe, und es sich also um eine Tat im Affekt gehandelt habe – auch wenn Hass und Affekt keineswegs deckungsgleiche Phänomene sind. Die juristische Einordnung ist hier und heute aber nicht das Thema; es soll vielmehr um das gehen, was alles für den Täter (und seinen geistesverwandten Anwalt) unter die berechtigten Ansprüche eines ordentlichen Ehemannes fällt, wodurch sich ein umfangreiches Sündenregister der Frau und eine dadurch wachsende Aversion des Ehegatten entfaltet hat; sodass dem Anwalt und seinem Mandanten die Tötung so verständlich vorkommt, weswegen der Täter dann – in eigener Interpretation – (fast) nichts mehr dafür kann … Mit diesem Verständnis sind Täter und Anwalt offenbar nicht allein auf weiter Flur – das vermute ich wegen der nicht vorhandenen Resonanz dieser Verteidigungsstrategie. Zu einem Skandälchen hat es nicht gereicht. Jedenfalls handelt es sich bei den Ausführungen der Verteidigung um ein ungemein lehrreiches „victim blaming“, das nicht totgeschwiegen, sondern studiert werden sollte. Was hat das Opfer denn nicht alles verbrochen:
„Der Mann sei gekränkt und beleidigt worden. Nach einer Operation 2018 habe er nicht mehr ejakulieren können, und so blieb der Wunsch nach einem weiteren gemeinsamen Kind unerfüllt. ‘Das hat ihn verzweifelt. Seine Frau hat nichts dazu getan, ihn aufzumuntern, sondern das genutzt, um ihn bloßzustellen’, sagt der Verteidiger.“
Nun, Sünde Nr. 1 ist ein hervorragendes Beispiel – sein Wunsch nach dem weiteren gemeinsamen Kind blieb unerfüllt. Nun ist „seine Frau“ da weder als Verursacherin dran schuld, noch konnte sie dieses Problem beheben; das wirft ihr auch die Verteidigung nicht vor! Nichtsdestotrotz bleibt die Geschichte an ihr hängen, nach Meinung des Täter-Verteidiger-Gespanns. Sie hätte offenbar für gute Laune sorgen, ihn „aufmuntern“ müssen, so dass er sich trotz des Leidens an der Zeugungsunfähigkeit gut fühlt?! Er ist verzweifelt – sicher bedauerlich für ihn –, und sie soll das irgendwie ausgleichen. Die Ehe als eine Art Psychotherapie? Jedenfalls ist dadurch letztlich sie schuld, an seiner Verzweiflung … Stattdessen habe sie ihn „bloßgestellt“ – wie, das referiert der Bericht nicht.
Er hat, das ist ihre Sünde Nr. 2, im Beruf geschuftet, „gearbeitet, ‘hetzte von Lokal zu Lokal, musste sich um Lieferanten, Küche, Bestellungen und Personal kümmern’, betont der Verteidiger“. Nun, auch das ist keine Gemeinheit ihrerseits, darin besteht sie, die unternehmerische Tätigkeit. Wer mehrere Lokale betreibt, hat einiges zu tun; er muss sich glatt um Lieferanten kümmern, etc. Aber wenn er berufsbedingt im „Stress“ rotiert, spricht das natürlich gegen sie, denn sie hätte dafür zu sorgen, dass er trotzdem zufrieden ist!? Seine hier unterstellte Unterhaltspflicht ihr und den Kindern gegenüber ist nach Recht und Konvention eben sein Beitrag zum gemeinsamen Haushalt, den sich die Beteiligten bekanntlich ganz gleichberechtigt organisieren dürfen.
Ihre offenbar durchaus gegebene Mitarbeit im Wirtshaus spricht allerdings wieder gegen sie, ist ihre Sünde Nr.3: „Sie war auch manchmal in den Gaststätten Aushilfe, hat sich als Chefin feiern lassen und hat ihn gedemütigt“ – ja die Frau vom Chef wird halt normalerweise als Chefin wahrgenommen; wie sie ihn durch ihre Aushilfe schon wieder gedemütigt hat, das referiert der Bericht im „Standard“ nicht.
Ihre Sünde Nr. 4 besteht darin, sie „habe sich nur schön gemacht, sich nicht um die Kinder gekümmert und nur darauf geachtet, dass sie für die Männer begehrlich sei. Der Verteidiger zählt drei Affären des Opfers auf, unterstreicht mit Google-Suchanfragen, dass sie sich nur für straffe Brüste, Kuschelhotels und Haarverlängerungen interessierte, und spricht von einem von ihr entworfenen Vertrag für sexuelle Dienstleistungen mit seinem Mandanten.“ – Sie wollte sich immerhin trennen, das Paar war vor der Tat schon einige Monate auseinander, und alleine bleiben wollte sie offenbar nicht. Die Geschichte mit dem „Vertrag für sexuelle Dienstleistungen mit seinem Mandanten“ (Nr. 5) wird nicht weiter ausgeführt – meiner Vermutung nach war das ein Versuch, ihm klar zu machen, dass es vorbei ist.
Sie hat sich übrigens keineswegs nur schön gemacht und nur für straffe Brüste etc. interessiert, da tut sich wohl ein Abgrund auf, nämlich die Sünde Nr. 6: Sie hat „eine Abendmatura und einen Unternehmerkurs gemacht und sich selbstständig machen wollen.“ Sie wollte sich ökonomisch unabhängig machen – und so was erwähnt ein Verteidiger allen Ernstes im Rahmen der Verteidigung seines Mandanten in einem Mordprozess, als eine Art Affront ihm gegenüber. Wer sich um die gemeinsamen Kinder zu kümmern hatte, steht sowieso fest: Also ihre nächste Verfehlung, Nr. 7.
Die nächste Sünde der Frau erläutert die Staatsanwältin: „Im Jänner 2022 hätten sich die beiden getrennt. ‘Er begann seine Frau zu überwachen, hat Standortdaten und Internetverhalten eingesehen über den gemeinsamen Google-Account’ sagt die Staatsanwältin. Der Angeklagte habe ein ‘massiv besitzergreifendes Verhalten’ entwickelt, dazu kamen tätliche Aggressionen. Einen Monat vor der Tat habe das Opfer schließlich Anzeige wegen Körperverletzung, Stalkings und gefährlicher Drohung erstattet. Bei einem Streit habe er ihr einen Stoß versetzt, sie kam zu Sturz und brach sich die Hüftgelenkspfanne. Er drohte ihr mehrfach mit Körperverletzungen (‘Ich bringe dich in den Rollstuhl’) und mit dem Tod (‘Du bist tot, du weißt es nur noch nicht’), suchte ihre räumliche Nähe und schrieb ihr mehrmals täglich. Es wurde ein Betretungs- und Annäherungsverbot gegen ihn verhängt und eine einstweilige Verfügung ausgesprochen.“ (Nr. 8) Durch das Annäherungsverbot hat sie ihn also schon wieder gedemütigt. Der erwähnte Bruch der Hüftgelenkspfanne spricht nach Auskunft des Verteidigers – warum wundert uns das nicht? – ebenfalls gegen das Opfer, denn sie habe (Sünde Nr. 9) „den Hüftbruch selbst verschuldet und den Vorfall als gezieltes Rachemittel genutzt.“
Also der Angeklagte hat ihr überhaupt nichts getan, von Todesdrohungen, Stalking und Körperverletzung einmal abgesehen, dafür hat sie sich völlig grundlos mit Hilfe der Behörden durch eine einstweilige Verfügung gerächt und ihn schon wieder gedemütigt – und über dieser Ungerechtigkeit verfiel der Angeklagte in einen „Verzweiflungszustand“. Kleine Ergänzung: Den Antrag auf einstweilige Verfügung zog die noch-Ehefrau einen Tag vor der Tat wieder zurück – warum denn? „Nachdem der Angeklagte bei einer Besprechung bei einem Anwalt mitgeteilt habe, dass er wieder eine Freundin habe.“ – Er hat sie also reingelegt, um überhaupt in ihre Nähe kommen zu können, mit der Behauptung, er habe durch eine neue Freundin seine Obsession ihr gegenüber endlich abgelegt oder wenigstens reduziert.
Rechtsanspruch essen Hausverstand auf!
Womit hat man es da zu tun? Aus den Schilderungen von Täter und Verteidiger ergibt sich doch vor allem eine Frage: Warum war der Täter jedem Quäntchen Logik gegenüber völlig immun? Wenn er es denn schon so erlebt, dass sie nur mehr mit seiner „Demütigung“ beschäftigt ist – da gibt es doch nur eines: Schluss machen, nichts wie weg! Eine Scheidung – die sie dann betrieben hat, was vermutlich wieder eine Demütigung für ihn war – kann aufwendig und schwierig sein; aber im Rahmen dieser Sorte toxischer Beziehung ist doch nichts mehr zu machen. Mag sein, dass viele seiner Hoffnungen geplatzt sind, aber wenn ein Teil eines Paares dezidiert nicht mehr will, wie soll denn durch Drohungen und Erpressungen und einen tätlichen Angriff ein gedeihliches Zusammenleben restauriert werden können?! Zumindest in seiner Eigenschaft als Wirtschaftstreibender muss sich der Täter noch halbwegs besonnen verhalten haben. Nicht so in seiner Eigenschaft als voll berechtigter Ehemann. Statt dessen: Der sich in die Verzweiflung hineinsteigernde spätere Täter hat sein letztes Quantum Hirnschmalz über einen längeren Zeitraum dafür benutzt, seinen moralischen Wahn zu zelebrieren, am seiner Ansicht nach erlebten „Unrecht“ zu leiden, seine Gattin darüber ins Unrecht zu setzen, und darüber einen wachsenden Hass zu kultivieren, oder: Moral essen Hausverstand auf!
Ohne Zweifel ein abschreckendes Beispiel für den Versuch, allseits anerkannte Liebesideale mit Leben zu erfüllen. Irgendwann und irgendwie muss der spätere Delinquent zum Befund gekommen sein, beim späteren Opfer handle es sich um seine „Traumfrau“, um die eine und einzige, die ihn glücklich machen kann. Und nicht nur glücklich machen kann, sondern im weiteren Verlauf auch glücklich machen muss: Immerhin wurde geheiratet, die beiden waren einander also verpflichtet, „zum Beistand“, und verpflichtet, „füreinander da zu sein“, in der ganzen abstrakten und sehr totalitären Bedeutung. Wenn der Täter ein „massiv besitzergreifendes Verhalten“ an den Tag gelegt hat, laut Staatsanwältin, dann hat er die Ehe akribisch als das interpretiert, was sie ist, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls: Als einen sehr umfassenden Vertrag, als ein Verpflichtungsverhältnis, und in dem Sinn schon als eine Art von Besitzverhältnis. – Dass diese Institution ein wechselseitiges und juristisch gleichberechtigtes Besitzverhältnis ist, nimmt halt vom Besitzverhältnis nichts weg; das Gesetz überlässt den Verlauf und die Ausgestaltung damit dem Kräfteverhältnis der Beteiligten. Dieses anspruchsvolle Arrangement ist im Rahmen der hiesigen Kultur so selbstverständlich, dass niemand am üblichen Sprachgebrauch – „meine Frau“ und „mein Mann“ – Anstoß nimmt. Nicht einmal die politisch korrekten Verfechter der Weltverbesserung durch Sprachkosmetik wollen das Possessivpronomen „mein“ aus dem Verkehr ziehen, sobald sich Eheleute oder Beziehungspartner dermaßen liebevoll titulieren.
Es gibt kein richtiges Leben im falschen? – Es muss aber!
Was hätte „seine Frau“ denn alles pflichtgemäß leisten müssen? Kastner zitiert in ihren Buch „Tatort Trennung“ den alten Adorno-Spruch: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Beziehungstäter und Veranstalter von Familientragödien führen sich auf, als wollten sie den Spruch mit ihrem Fanatismus blamieren: Es muss doch ein richtiges Leben geben, mitten im falschen – nämlich das Privatleben, wo sich die Beteiligten wechselseitig auf das gelungene Leben, auf das Glück, auf die Erfüllung festnageln, per feierlichem Versprechen. Im vorliegenden Fall bilanziert die Verteidigung so unangenehme Sachen wie eine Operation samt Zeugungsunfähigkeit und ein aufreibendes Berufsleben als Versagen der Frau auf der ganzen Linie. Der Täter war sicher, „seine“ Frau hätte dafür zu sorgen, dass es ihm – trotz alledem – gut geht, irgendwie, und er hat umgekehrt manche seiner Schwierigkeiten als ihr Versäumnis, ihr Fehlverhalten, als ihre Pflichtverletzung ihm gegenüber interpretiert. Wenn sie dann gehen will, dann ist die zwar vorher nie realisierte, aber doch immerhin rechtlich verbriefte Hoffnung auf das richtige Leben im falschen endgültig weg, und sein Leben damit zerstört. Es ist schon das hochentwickelte moralische Empfinden des Täters in Bezug auf „seine“ Frau, es ist sein Moralkodex, seine Sittlichkeit, die zum Mordmotiv wird. Unabhängig davon, ob sich das heutzutage noch in einem milden Urteil niederschlägt oder nicht. Heutzutage ist ja nicht mehr der Ehrenmord, sondern die Scheidung „allgemein verständlich“, in einer solchen Situation.
Noch ein kurzer Ausflug ins Reich der Eheversprechen, in die Gelöbnisse, die bei Hochzeiten nach Wahl der Brautleute ausgetauscht werden können, und das nicht nur im Film. Eine besonders hartgesottene Zusammenstellung:
„Ich verspreche, dich nicht zu verlassen, weder in guten noch in schlechten Tagen, weder in Reichtum noch in Armut, weder in Gesundheit noch in Krankheit, und dir die Treue zu halten, bis dass der Tod uns scheidet.“ (www.weddingstyle.de)
Na gut, man kann gern glauben, dass diesen Schmarren ohnehin niemand so richtig ernst nimmt, dass es sich um bescheuertes Pathos handelt, das halt in einem feierlich gemeinten Moment abgesondert wird. Aber egal, ob das explizit geschworen wird – da wird ein verbreitetes Liebesideal in Worte gegossen. Was, wenn das bitterernst genommen wird, auch ohne formelles Gelöbnis, so mehr als Gewohnheitsrecht im Verlauf einer Beziehung? Da wird durch die je eigene Willigkeit ein wechselseitiges Niveau von Ansprüchen definiert, das es in sich hat, und damit eine entsprechende Fallhöhe für die kommenden Enttäuschungen. Was, wenn das ernstlich als Lebenskrisenbewältigungsprogramm genommen wird? Weil die Familie oder die Beziehung nun einmal das wichtigste in einer „kalten“, ungemütlichen Welt sind, weswegen die Familie einfach nicht schiefgehen darf? Das Gelöbnis selbst ist ebenso ignorant wie totalitär – es sind immerhin gute und schlechte, arme und reiche, gesunde und kranke Zustände erwähnt. In der Tat, das Leben im Kapitalismus birgt einige sogenannte „Wechselfälle“, auch schon vor Pandemie und Lockdown und Krieg und Inflation – und für diese Zustände ist charakteristisch, dass die Eheleute in der Regel weder als Verursacher etwas dafür können, noch die passenden Mittel haben, um damit fertig zu werden. Aber ausbaden sollen sie das alles möglichst miteinander und füreinander – und daraus wird nicht selten ein gegeneinander! Gesundheit und Krankheit – lieber eine Krankenversicherung statt einer Heirat? Armut und Reichtum – lieber eine Lohnerhöhung oder eine Erbschaft als ein Besuch am Standesamt?! Jedenfalls – was ist los, wenn der rücksichtslose, in so einem Versprechen zusammengefasste Standpunkt ernst genommen wird, als Durchhalteprojekt im täglichen Lebenskampf? Diese Versprechen bestimmen die Familie als materielle und psychosoziale Not- und Elendsgemeinschaft, wo die Beteiligten immer füreinander da zu sein haben, auch wenn sie einander nicht viel nützen können. Familie als eine Art Superkleber in allen Lebenslagen, als Allheilmittel für jedes eingebildete Wehwehchen ebenso wie für jede große Katastrophe! Und: Keine individuelle, keine verschrobene Spinnerei liegt hier vor, sondern das gesellschaftlich erwünschte, das staatlich geförderte, rechtlich fixierte und daher moralisch hochwertige Lebensbewältigungsprogramm!
Was der Staat damit zu tun hat? Viel! Während eine liberale Interpretation auf die Familie als Refugium individueller Bedürfnisse abzielt oder früher abzielte, wo jeder nach seiner Fasson selig werden möge und der Staat den Beteiligten nichts dreinzureden habe – das war immer schon eine etwas weltfremde Auffassung –, da formuliert die Gesetzgebung eindeutige Anforderungen an die Familie, wegen des verbindlichen Nutzens der Gesellschaft aus der liebevollen Zweisamkeit. Es handelt sich – unpathetisch betrachtet – um eine Einrichtung des Sozialstaats, nämlich um die politisch-rechtliche Funktionalisierung der Zuneigung der Beteiligten für nützliche Dienste aneinander – und damit im Staatsinteresse: Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sind allesamt als dringend beistandsbedürftige soziale Charaktere unterstellt, und speziell die betreuungsbedürftigen noch-nicht- und die pflegebedürftigen nicht-mehr-Leistungsträger der Nation, der Nachwuchs und die pflegebedürftigen Verbrauchten, die sollen hier die Stätte ihrer Versorgung finden. Dafür gehört die Familie materiell gefördert, damit sie die abverlangten Belastungen auch aushält; und manchmal auch moralisch verhätschelt, durch die Diskriminierung anderer Formen des Zusammenlebens. Der Staat zumindest nimmt dieses Durchhalteprogramm praktisch ernst, und zwar erst recht, sobald Eheleute nicht durch den Tod, sondern vom Familiengericht geschieden wurden. Das Gelöbnis, so individuell es neuerdings auch gestaltet sein mag, ist die freiwillige Unterwerfung unter das Eherecht, auch wenn das manche erst nachher merken. Die jeweils vom Gesetz definierten Unterhalts- und Betreuungspflichten, die finanziellen Ansprüche gegeneinander, auch die der Kinder – die bleiben bekanntlich aufrecht und werden eingetrieben, auch wenn die Lebensgemeinschaft längst verschlissen ist.
Beim Beziehungs- bzw. beim Trennungstäter steht nur eine Verpflichtung im Fokus, das unbedingte Recht auf Treue: Der Teil des Versprechens, der auf das nicht-verlassen-werden-dürfen abhebt. Bis dass der Tod scheidet …