Vergangenheitsbewältigung auf österreichisch

07.02.2024

Vergangenheitsbewältigung auf österreichisch:
zuerst nicht nötig bzw. ganz anders, dann aufgenötigt, jetzt haben fertig!

Noch einmal zur Unterscheidung und zur Abgrenzung, was Vergangenheitsbewältigung nicht ist: Es geht nicht um die Erklärung oder wenigstens die Analyse der „unseligen Vergangenheit“, sondern um die Frage, wie „wir“ damit umgehen wollen oder müssen. – „Wir“, die wir uns mit dem damaligen Nationalkollektiv identifizieren wollen oder müssen – warum eigentlich? –, und die daher mit dessen „Schuld“ irgendwie umgehen müssen, mit dem Bedürfnis, das „so-sind-wir-nicht“ zu beglaubigen …

Ein Literaturtipp: „Alles bewältigt, nichts begriffen“, heißt ein Buch von F. Huisken und R. Gutte über die deutsche Vergangenheitsbewältigung, es macht den Unterschied zwischen begreifen, kapieren – und bewältigen deutlich. Das Buch ist als pdf online und kostenlos zugänglich, es widmet sich dem „Nationalsozialismus im Unterricht“, also dem, was pädagogisch verbindlich ist in Sachen Nationalsozialismusbetrachtung:
https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Gutte_Huisken_Alles_Bewaeltigt_nichts_begriffen.pdf

In Österreich: Unmittelbar nach dem Krieg, auf Basis der totalen Niederlage des Dritten Reiches und der eindeutig geklärten, der alternativlosen politischen Lage, sowie wegen der Brauchbarkeit der mehr oder weniger „Belasteten“ für den österreichischen Wiederaufbau war das Bedürfnis nach einem „Schlussstrich“ allenthalben anzutreffen. Mit dem Moskauer Beschluss von 1943, den „Anschluss“ rückgängig zu machen, war die 1938 verschwundene Republik Österreich als „Opfer“ des deutschen Faschismus definiert, und mit der Wiederherstellung des eigenstaatlichen status quo ante war der Nationalsozialismus in Österreich auch schon „bewältigt“; dazu kamen einige Kriegsverbrecherprozesse und die „Entnazifizierung“ des Staatsapparates von als unzuverlässig eingestuften NSDAP-Mitgliedern. Man brauchte „als Österreicher“ keine Distanz zu Österreich einzunehmen, sondern musste sich zu ihm bekennen. Das war damals die zeitgemäße österreichische Methode, eine Distanz zum deutschen Faschismus zum Ausdruck zu bringen! Exemplarisch für die schnörkellose, radikal moralische Eingemeindung sowohl der Hardcore-Nationalsozialisten als auch der vielen „Mitläufer“ eine Stellungnahme aus dem Wahlkampf des Jahres 1949:

„Dass selbst ein ehemaliger Häftling, wie der im KZ Dachau internierte spätere Bundeskanzler Alfons Gorbach, ungeniert um die Stimmen ehemaliger Nationalsozialisten warb, erscheint besonders bemerkenswert. [Gorbach im Original:] ‘Nirgendwo im Geschehen der letzten Jahre hat es so viele echte Anständigkeit, so viel selbstverleugnende Pflichterfüllung gegeben wie eben bei den Soldaten dieses Krieges. (…) Da mögen die Herren Emigranten noch so viel Moralinsäure verspritzen: Jene, die draußen (an der Front, Anm. Scholz) ihren Mann gestanden haben, wissen besser, was anständig ist, als jene, die sich beim ersten Kräuseln des Ozeans in Sicherheit gebracht haben. Ich spreche den Emigranten das Recht ab, in der NS-Frage mitzureden!’ (Wahlkampf 1949; vgl. Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall, 1979, S.134) Alfons Gorbach überredete auch den ehemaligen NS-Bauernführer Sepp Hainzl zu einem Aufruf an ‘Ehemalige’, die ÖVP zu wählen.“ (Kurt Scholz, in: BERICHT DER HISTORIKERKOMMISSION. Analysen und Materialien zur Geschichte des Dritten Lagers und der FPÖ, herausgegeben vom Freiheitlichen Bildungsinstitut 2019, S. 17, Zitat Gorbach wörtlich in der Fußnote 22)

Der spätere Bundeskanzler bemüht sich also um einige sehr eindeutige Klarstellungen, und die Verniedlichung des Statements zum bloßen Wählerfang wird seiner Botschaft einfach nicht gerecht: Relevant für die Beurteilung seiner Zeitgenossen ist ihm deren Haltung im Krieg, und da sieht er nichts als eine beeindruckende Anhäufung von soldatischen Tugenden, die aus seiner Sicht für die Qualität von Leuten bürgen, die sich komplett zum Menschenmaterial des vorigen Staates haben erniedrigen lassen – denn genau diese Tugenden waren nun vom neuen Staatswesen gefragt und benötigt. Dass die Angesprochenen und mit Komplimenten Überhäuften ihre „Anständigkeit“ und „selbstverleugnende Pflichterfüllung“ dem verkehrten Staat erbracht haben, ist für Gorbach sekundär – weil die Lage so eindeutig ist, das Dritte Reich so gründlich politisch, militärisch und moralisch abgewirtschaftet hat, dass diese überzeitlichen und abstrakten, daher aus der Perspektive des Politikers fast schon unpolitisch wirkenden Untertaneneigenschaften nunmehr nur mehr dem neuen Staat zugutekommen können, sollen und müssen.

Als Störenfriede in dieser Idylle identifiziert der spätere Kanzler nur die paar „Moralinsäure verspritzenden Emigranten“. So die Beschimpfung der meist jüdischen zurückkehrenden Flüchtlinge, die Europa verlassen hatten, als „Fluchtrouten“ noch offen waren. Die werden vom Staatsmann im Vergleich mit den bedingungslosen Pflichterfüllern und deren echter Anständigkeit eindeutig als Drückeberger entlarvt, als welche, die sich dem Dienst am nunmehr deutschen Vaterland entzogen hätten – auf dessen Todeslisten sie standen! –, und die deswegen die Schnauze zu halten hätten, wenn es um die integrative Würdigung der alten bewährten Nationalsozialisten geht. Das alles – wohlgemerkt! – im Wissen um das Schicksal derer, die sich nicht „in Sicherheit“ bringen konnten, und die nicht an den diversen Fronten, sondern am Gas krepiert sind!! Diese Stellungnahme ist keineswegs die Entgleisung eines „Einzelfalls“. Das war der damalige Stand der „Vergangenheitsbewältigung“ in Österreich. Diese Position Gorbachs zu den anständigen Pflichterfüllern an der Front hat Jörg Haider übrigens zeitlebens vertreten; gerade durch die Auseinandersetzung mit ihm wurde Ende des vorigen Jahrhunderts dann die Uminterpretation der österreichischen Vergangenheit vorangetrieben. Nach den heutzutage billigen Sprüchen wie „in Österreich ist kein Platz“ für – bitte einsetzen: Antisemitismus, Extremismus, Islamismus … – gab es damals keine Nachfrage. Die Sache mit dem Platz des „Nationalsozialismus in Österreich“ hatten die Alliierten erledigt, an der Tauglichkeit von Nationalsozialisten für Österreich bestand kein Zweifel, und die gehobenen Posten im Staat blieben ihnen wegen des schwarz-roten Parteienproporzes ohnehin verwehrt. Alles paletti.

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Eine kurze Darstellung der politischen und geistigen Lage Österreichs nach Kriegsende:

„In Österreich beteiligte sich eine Verdrängungskoalition über Partei- und Landesgrenzen hinweg an der Lebenslüge der Zweiten Republik: Aus Tätern wurden Opfer, aus Besiegten Befreite. Den Großmächten ging es darum, Österreich von Deutschland, das mit allen Mitteln geschwächt werden sollte, dauerhaft zu isolieren. Sie machten in der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 die Ostmark zum Opfer. Die provisorische Staatsregierung nützte das, um sich mit der ‘Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs’ vom 27. April 1945 aus der Verantwortung für Krieg und Naziverbrechen zu stehlen. Die österreichischen Politiker griffen entschlossen nach dieser Chance, das Land aus der Konkursmasse des Dritten Reiches zu retten. Unverhofft bot sich ihnen die Gelegenheit, Deutschland als Bürge und Zahler in Anspruch zu nehmen, den Wiederaufbau ohne Verzögerung in Angriff zu nehmen und den Abzug der Besatzungsmächte zu beschleunigen. Aus übergeordnetem Staatsinteresse entstand ein patriotischer Verdrängungskonsens, der Täter, Mitläufer und Pflichterfüller, aber auch die Nutznießer von ‘Arisierung’ und ‘Entjudung’, unter moralischen Druck setzte, keine Reue zu zeigen. Wer die historische Wahrheit verteidigte, wurde als Nestbeschmutzer denunziert. … Bevor die Aufarbeitung der Geschichte noch eingesetzt hatte, erscholl schon der Ruf, mit ihr endlich Schluss zu machen. Nicht einmal die Aufdeckung der industriellen Massenvernichtung reichte aus, die braune Vergangenheit aus Herzen und Köpfen zu tilgen. Bei mehreren Meinungsumfragen im Jahr 1947 meinten 30 bis 51 Prozent der Wiener, im März 1948 fast 58 Prozent der Salzburger, der Nationalsozialismus sei eine ‘gute Idee’, die nur ‘schlecht durchgeführt’ worden sei.“ (Hans-Henning Scharsach, Haiders Kampf. Wien 1992, S. 22f.)

Mit „Verdrängung“ im psychologischen Sinn hat das alles natürlich nichts zu tun, dafür sehr viel mit Staatsräson: „die provisorische Staatsregierung nützte das“, „die österreichischen Politiker griffen entschlossen nach dieser Chance“, „aus übergeordnetem Staatsinteresse entstand ein patriotischer Verdrängungskonsens“ etc., hält Scharsach fest. Der leitende Gesichtspunkt des Geschichtsbildes ist ein „Staatsinteresse“, damals das übereinstimmende Interesse der Siegermächte und das der österreichischen Regierung, und dementsprechend werden die Ereignisse gedeutet, die „Narrative“ gebastelt. Die Regierung brauchte sich gar nicht „aus der Verantwortung zu stehlen“, weil sie vorher nicht existent war, und das gute, brave Volk wurde sofort wieder in genau dieser Eigenschaft – als Volk eben – gebraucht. Warum denn ausgerechnet „Täter, Mitläufer und Pflichterfüller, aber auch die Nutznießer (sic!) von ‘Arisierung’ und ‘Entjudung’“ eigentlich hätten „Reue zeigen“ sollen, was sie erst unter „moralischem Druck“ angeblich dann doch unterließen, das bleibt völlig unerfindlich. Der Autor projiziert die erst einige Jahrzehnte später gültigen moralischen Gesichtspunkte auf die unmittelbare Nachkriegszeit; wundert sich, dass diese erst nachträglich etablierten sittlichen Eckpfeiler einfach nicht vorhanden waren – und unterstellt sie dennoch, aber eben „verdrängt“ oder bloß „unter Druck“ unterlassen!

Stattdessen wäre hier vorurteilslos zu registrieren, wie unglaublich belastbar so ein Verhältnis von Volk und Führung ist, sowohl praktisch als auch moralisch, indem nicht einmal die „industrielle Massenvernichtung“, sofern vom eigenen Staat gegen ein feindliches Volk angeordnet, dieses barbarische Pflicht- und Treueverhältnis zur Nation nachhaltig zu erschüttern vermag!

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„Die österreichische Lebenslüge, die da lautet: ‘Wir sind 1938 besetzt worden, wir sind 1945 befreit worden, was dazwischen geschehen ist, dafür können wir nichts.’ hat ihre Kraft erschreckend deutlich bewiesen. Sie wurde die ganzen Jahre hindurch mit Fleiß von Politikern aufgebaut. Und nur zu gern spricht man sie nach.“ (Hermann Langbein in http://for vm.contextxxi.org/vergangenheitsbewaltigung-und.html)

Sagt Hermann Langbein, als Auschwitz-Überlebender vermutlich auch so eine Art Emigrant und Drückeberger. Die Schwäche der Charakterisierung als „Lebenslüge“ vernachlässigt den entscheidenden Sachverhalt: Das war die Staatsdoktrin, das übereinstimmende Interesse der Siegermächte, und der aufkommenden österreichischen politischen Klasse und des enttäuschten Volkes.

Erst als die österreichische Nation konsolidiert war, als der neutrale Kleinstaat seine politische und ökonomische Stabilität unter Beweis gestellt hatte; als Zweifel an der „Lebensfähigkeit“ analog zur Ersten Republik gar nicht aufgekommen oder entkräftet waren; als außerdem der deutsche Kunstgriff des „Bekenntnisses-zur-Verantwortung-für-die-Schuld“ durch die gewachsene Macht des fetten neuen Deutschland geadelt war; als schlussendlich jedwede handfeste politische Konsequenz wie Reparationsforderungen als ausgeschlossen galt; nicht zuletzt als ausländische Kritik an der mangelnden Vergangenheitsbewältigung im Zuge der „Affäre Waldheim“ laut geworden war; erst dann hat sich der damalige Kanzler 1993 im Namen der Nation und zur Förderung von deren „Ansehen“ zur „Verantwortung“ bekannt – „Verantwortung“ eben in deutlicher Absetzung zu „Schuld“, und allfälligen damit verbundenen Ansprüchen. Das war’s dann. Damit hat Vranitzky das Bedürfnis eines gefestigten österreichischen Patriotismus bedient, dem die fiktive Kontinuität der Nation, auch und gerade während der staatlichen Nichtexistenz, wichtiger ist als die mit der Kategorie „Opfer“ gegebene Distanz zu deutschen Untaten. Die Botschaft – „Auch wir Österreicher tragen Verantwortung, und das ehrt uns mächtig!“ – ist natürlich auch keine Auskunft über den Faschismus und seine Mitmacher, nicht einmal eine falsche. Sie gehorcht dem Bedürfnis, lieber ideell und bekennerhaft auch zu den „Tätern“ zu gehören, lieber als quasi-verbündete Nation des Deutschen Reiches die bewährte Masche mit der „Verantwortung“ aufzugreifen, als eine siebenjährige Leerstelle zwischen 1938 und 1945 in der Nationalgeschichte zu dulden! Das ist die Leistung dieser „umgeschriebenen“ österreichischen Vergangenheitsbewältigung.

Kleiner Nachtrag zu Verantwortung vs. Schuld:

Einige Jahre nach der Verantwortungs-Rede des Kanzlers hat Österreich doch noch gezahlt, und ein paar Schilling – damals – rübergeschoben:

„Im Jahre 2000 richtete die ÖVP-FPÖ-Koalitionsregierung mit den Stimmen aller Nationalratsfraktionen den sogenannten Versöhnungsfonds zur Entschädigung von ausländischen Zwangsarbeitern auf österreichischem Boden während des Dritten Reiches ein. … Nach diesem ausdrücklichen Bekenntnis zu der geschichtlichen Sonderverantwortung Österreichs betonte Haupt sowohl die Freiwilligkeit dieser Geste, da Österreich rein rechtlich zu keinerlei Reparationszahlungen verpflichtet sei, als auch die Wichtigkeit der Rechtssicherheit … Wie alle seine Vorredner unterstrich auch der vierte freiheitliche Redner, Harald Ofner, die Freiwilligkeit der Geste, die er nicht als pauschales Schuldeingeständnis aller Österreicher – weder der Kriegsgeneration noch ihrer Nachkommen – verstanden wissen wollte. Diese Freiwilligkeit sei besonders wichtig, da ja ‘die Generation, die mit den Verbrechen des Nationalsozialismus nichts zu tun hat’, verstehen müsse, warum sie die ‘beträchtliche’ Summe von sechs Milliarden Schilling aufbringen solle.“ (Grischany, BERICHT der Historikerkommission S. 263 f.)

Wie es der materialistischen Geschichtsauffassung entspricht, sind diese nachträglichen „Lohnverhandlungen“ der etwas anderen Art mit früheren Zwangsarbeitern und eine teilweise Aufrollung der „Rückstellung“ von arisiertem jüdischem Vermögens ein Resultat dessen, was wirklich zählt im marktwirtschaftlichen und politischen Leben, also Ergebnis einer Erpressung. Deswegen bestand die österreichische Politik in Gestalt einer Allparteien-Lügnerkoalition auf der penetrant vorgetragenen und allseits durchschauten Falschaussage von der „Freiwilligkeit“. Immerhin hat der freiheitliche Abg. Gudenus – der Vater des einen Ibiza-Hauptdarstellers – die Wahrheit ausgeplaudert:

„Gudenus: ‘Wir zahlen Schutzgeld’… Scharfe Kritik an den von der Regierung vereinbarten Entschädigungen für NS-Zwangsarbeiter übte der freiheitliche Bundesrat John Gudenus … ‘Die Entschädigungen müssen deshalb sein, um die Handelsbeziehungen – insbesondere mit den USA – nicht zu stören. Nichts anderes steckt dahinter. Diese Entschädigungen sind nichts anderes als Schutzgeld, das wir zahlen müssen’, sagte Gudenus in einem Interview für das Nachrichtenmagazin ‘profil’.“ (Wiener Zeitung, 29.5.2000)

Eine gute Nachrede hatte „freiwillige Spende“ nicht. Christian Rainer (profil 18/2000) gilt im österreichischen politischen Koordinatensystem als liberal und nicht als rechtsextrem:
„Zahlen macht frei … Im Endeffekt diktiert nämlich ein amerikanischer Vizefinanzminister, wie viel Geld österreichische Unternehmen und Steuerzahler an welche Personen überweisen dürfen. Das ist schon deshalb nicht fair, weil die typischen ehemaligen Zwangsarbeiter heute keineswegs Amerikaner sind, sondern Osteuropäer.“ Es ist nicht fair, dass „uns“ die Amis erpressen, wo „uns“ die Osteuropäer doch nie dermaßen erpressen könnten! „Das ist darüber hinaus ungerecht, weil die Verhandlungen unter der Drohung von Sammelklagen laufen, einem Rechtsinstrument, das dem europäischen Rechtsempfinden nicht entspricht. So entsteht der Eindruck, dass sich die US-Regierung auf ein System stützt, das … Erpressungen Vorschub leistet.“ Der Eindruck ist völlig richtig, und es ist ungerecht, dass „wir“ von einem Rechtsinstrument erpresst werden, das „unserem“ Rechtsempfinden widerspricht, gemäß dem „wir“ 55 Jahre nichts gezahlt haben! „Gerechter wird die Angelegenheit auch dadurch nicht, dass auf amerikanischer Seite fast ausschließlich jüdische Politiker und jüdische Lobbies agieren: Von den rund 150.000 überlebenden Zwangsarbeitern sind aber nur etwa zehn Prozent Juden.“ Ungerecht, und wer steckt wieder mal dahinter? Jörg Haider hat sich anders ausgedrückt, nämlich so: „Er würde ‘genügend Leute’ kennen, ‘die sagen: Wir wissen jetzt, warum Antisemitismus entsteht’.“ (profil 11/2000)

Eine Anekdote aus der Provinz

In Ebensee im Salzkammergut, am anderen Ende des Traunsees – übrigens Teil der europäischen Kulturhauptstadtregion dieses Jahres – da wurde seinerzeit ein Nebenlager des KZ Mauthausen errichtet, die Gefangenen mussten Stollen in den Berg treiben, um Betriebe verlagern zu können. Das war in der Gegend natürlich allgemein bekannt, es hat einige Jahrzehnte bloß niemanden interessiert. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts kamen ein paar Leute auf die Idee, da müsse man doch etwas draus machen: Erinnern, Gedenken, Aufarbeiten – so Zeug halt. Schlappe 43 Jahre nach Kriegsende hat ein „Verein Widerstandsmuseum“ damit begonnen – wieso denn Widerstandsmuseum?! Die Stätte heißt auch „Zeitgeschichtemuseum“. Anfang Mai findet nun jedes Jahr aus Anlass der Befreiung der KZ-Insassen eine Gedenkfeier statt. Im Jahr 2009 ein Eklat: Ein paar Jugendliche stören, sie verkleiden sich mit pseudo-Uniformen und erschrecken die Teilnehmer – Überlebende des KZ dabei! – mit Hitlergruß und Spielzeugwaffen.

Wie das? Offenbar kann man schon in sehr jungen Jahren – oder vielleicht gerade deswegen! – ein stockbeleidigter Patriot sein: Die frühreifen Kleinen kriegen mit, dass da erstens echte NS-Opfer, also moralisch unanfechtbare Riesen, zweitens extra aus dem Ausland anreisen, um drittens „uns“ beim „Erinnern und Gedenken“ zu helfen und „uns“ womöglich zu „mahnen“ – als ob „wir“ das nötig hätten! Wie verzinkt auch, eine Schuldzuweisung hören sie noch immer heraus, und die passt ihnen nicht. Der österreichische Staat stellt umgehend klar, dass er da überhaupt keinen Spaß versteht und das auch nicht als Lausbubenstreich oder „Dummheit“ einzuordnen gedenkt. Österreich sorgt mit den passenden Argumenten für Respekt vor seinen Werten: Die Jugendlichen wandern einige Wochen in U-Haft, drei davon werden später nicht wegen groben Unfugs, sondern nach dem NS-Wiederbetätigungsgesetz zu bedingten Haftstrafen verurteilt. Der Ort erfüllt seine Pflicht und organisiert eine Distanzierungs-Demonstration; und in einer regionalen Gratiszeitung erscheinen zur Bewältigung zwei Leserbriefe, die das politische Spektrum vollständig abbilden. Leserbrief 1:

„Schluss mit den ewigen Befreiungsfeiern, Schluss mit der dauernden Erinnerung an unfassbare Gräuel, Schluss mit dem ständigen schlechten Gewissen, Schluss mit der ganzen Hetzerei und Wiedergutmachung – jedem seine eigene Erinnerung! Sperrt die Stollen zu und lasst unsere Kinder frei. Es reicht.“ („Tips“ 20. 5. 2009)

Die Forderung nach „Freilassung“ war vermutlich nicht nur wörtlich gemeint, bezogen auf die Kinder in U-Haft, sondern auch ein wenig metaphorisch, es möge „uns“ und erst recht den Kindern die „Schuld“ und das „schlechte Gewissen“ endlich erspart bleiben. Freilich, wer die Gegenwart im Wege des Gedenkens an frühere „unfassbare Gräuel“ feiern will, kommt eben um die Erinnerung daran nicht herum, und Brief Nr.1 hält die Darstellung der Sünde und der Schuld und damit das „schlechte Gewissen“ für das Wesentliche, und glaubt nicht an das dadurch erlangte gute Gewissen durch die Vergebung, bzw. sieht durch die Vergebung hindurch immer und immer wieder die Schuld und die Forderung nach Sühne, die längst niemand mehr erhebt. Ist denn das durch die Beichte erlangte gute Gewissen so schwer zu begreifen?! Die wirklich nicht übermäßig raffinierte Variante des „Bewältigen durch Bekennen“ ist in der Provinz offenbar noch nicht gänzlich angekommen.

Ein schon etwas größeres, wohlerzogenes Kind kann sich in der Sache auch nicht verschweigen, es erzählt also freigiebig über sich und stellt sein gutes Gewissen zur Schau: Es platzt als überzeugter Patriot heutiger Machart schier vor Selbstgerechtigkeit, vor Stolz auf sich und seine bessere Moral, wie sonst höchstens die nationalen Würdenträger bei den jeweiligen staatsoffiziellen Gedenkfeiern. Leserbrief 2:

„Mit Entsetzen habe ich von den jüngsten Vorkommnissen im KZ-Gedenkstollen in meinem Heimatort Ebensee Notiz genommen. Ich möchte besonders den davon betroffenen Überlebenden und den Hinterbliebenen ehemaliger Deportierter mein Mitgefühl ausdrücken, für die eine derartige Reise an die ehemaligen Stätten unvorstellbaren Leides eine wahrliche Pilgerreise darstellt. … (es hielt) ein italienischer Überlebender der Lager von Mauthausen und Ebensee, eine vielbeachtete Rede, in der er unter Bezug auf eines der spöttischen Nazi-Mottos meinte ‘Wissen macht frei’. Meines Erachtens nach bezieht er sich damit besonders auf das Wissen um die (eigene) Geschichte, aber nicht nur: Wissen heißt auch Bewusstsein; das Bewusstsein um die eigene Verantwortung und Freiheit und um ihre jeweiligen Grenzen. … Wissen heißt eben auch, zwischen ‘richtig’ und ‘falsch’ unterscheiden zu können. In diesem Sinne sollen uns die aufs Schärfste zu verurteilenden Vorfälle eine Mahnung und Ansporn für den Kampf gegen jegliche Art des Rechtsextremismus sein …“ (ebd.)

Diese „Pilger“ – ohne religiösen Bezug geht in diesem Kult offenbar gar nichts! – am Ende ihres Weges zu unserer quasi-religiös-nationalen Weihestätte kritisieren uns doch nicht, sondern begleiten als unanfechtbar glaubwürdige „Überlebende und Hinterbliebene“ unsere Darstellung eines unanfechtbaren National-Gewissen! Gerade aus der „dauernden Erinnerung an unfassbare Gräuel“ gewinnen „wir“ doch unsere moralische Statur! Dadurch wissen wir über „richtig und falsch“ Bescheid! Ohne „unfassbare Gräuel“ wären wir womöglich in Bezug auf gut und böse völlig orientierungslos, gell! Aber so bereichert die Erinnerung an diese Gräuel unser Wissen um unsere Gutheit wegen unserer Verantwortung! Dadurch wissen wir, dass und wie richtig wir mit unserer heutigen Verantwortung und Freiheit liegen!
Ebensee ist jedenfalls auf dem Niveau der europäischen Kultur!

Vgl. dazu auch das Kapitel: „Ein KZ-Besuch – betroffen“ im erwähnten Buch „Alles bewältigt …“
https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Gutte_Huisken_Alles_Bewaeltigt_nichts_begriffen.pdf

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