Überflüssig
Wir stellen diesmal ein Projekt rund um Ilja Trojanows aktuelle Streitschrift “Der überflüssige Mensch” vor und begrüßen dazu im Studio die Gestalter dieses soeben entstehenden Work in Progress, unter ihnen Wolfgang Posch und Thomas Mulitzer vom Akustik-Punk-Duo TWO ON GLUE. Wir halten das für eine vortreffliche Idee, gerade den aktuellen Literaturbetrieb systemkritisch gegen den Strich zu bürsten und auch die Aussagen seiner Lieblinge auf persönliche Anwendbarkeit hin abzuklopfen. Diesem Ansinnen wollen wir uns gern anschließen und gegebenenfalls die gemeinsame Gestaltung eines Radiofeatures zum Thema “Überflüssigkeit” oder “Entbehrlichkeit” in Angriff nehmen. Zu unserem heurigen Themenschwerpunkt “100 Jahre Erster Weltkrieg” passt derlei ohnehin wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Siehe (oder höre) dazu die Sendungen “Krieg und Frieden – Eine Andeutung” (Artarium) und/oder “Krieg und Frieden” (Nachtfahrt)
Interessanterweise ist der “überflüssige Mensch” ein verbreiteter Archetyp in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, und zwar meist ein gebildeter Nutznießer herrschender Verhältnisse, der die ihn umgebende Dummheit und Ungerechtigkeit erkennt, ihr aber handlungslos als gelangweilter Zuschauer begegnet. Kommt uns da nicht einiges erschreckend bekannt vor, wenn wir uns selbst inmitten des gegenwärtig konsumoptimierten Wirtschaftszaubers wahrnehmen? Das ist sicher eines der Motive, denen Trojanow folgt, wenn er die Frage aufwirft, wieso wohl jenseits von flüchtigen Empörungen keinerlei wesentliche Veränderung der Verhältnisse abzusehen ist. Noch interessanter fand ich allerdings den Umstand, dass der Archetyp des “überflüssigen Menschen” in der Literatur auf den “Byronic Hero” (-> Lord Byron) zurückgeht, einer Art einzelgängerisch weltabgewandten Antihelden, der seine persönliche Einmaligkeit in dauernder Rebellion gegen die Gepflogenheiten der Gesellschaft stellt. Sein Charisma besteht in der Ambivalenz zwischen Abscheu und Anziehung. Populäre Vertreter dieses Typs, mit dem wir uns nicht ungern identifizieren, wären etwa Batman, Severus Snape oder Dr. House. Kommt jetzt endlich die dicke Moralkeule, mit der Trojanow dem schlechten Gewissen unserer “Du solltest endlich etwas tun”-Spaßgesellschaft den Rest gibt? Oder stecken in der Botschaft dieses Beobachters noch viel tiefere Abgründe?
Anders gefragt, wenn ein angewiderter Außenseiter als unbeteiligter Zuschauer ein Gedicht über sein Erleben dieser Welt schreibt – wie “überflüssig” kann das sein?
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