„Putin verstehen“ – wie geht das? Von den USA lernen, um Putin zu verstehen?!
„Putin verstehen“ – wie geht das?
Die viel gescholtenen „Putin-Versteher“ haben es nicht leicht. Allein schon, dass dem „russischen völkerrechtswidrigen kriminellen Angriffskrieg“ etc. usw. irgendwelche nachvollziehbaren politischen Beweggründe attestiert werden könnten, das allein verstößt gegen die von den NATO- und Selenskyj-Verstehern in den höchsten politischen und medialen Etagen dominierte Diskussionskultur. Verboten werden die „Putin-Versteher“ nicht, oder noch nicht, das braucht es auch nicht, denn die kollektive Ächtung durch die Verantwortungspresse bringt unter dem Strich vermutlich sogar ein überlegenes Ergebnis – wenn alle Maßgeblichen unisono ganz frei und ohne Propagandaministerium oder Zensur einhellig in den sonst angeblich verpönten „einfachen Antworten“ schwelgen und die Welt endlich mal ganz primitiv „schwarz-weiß“ malen können.
In einem der letzten Reservate, nämlich in der Schweizer „Weltwoche“, hat ein Repräsentant aus der US-amerikanischen Putin-Versteher-Szene publiziert. Der Autor heißt Benjamin Abelow, er wird als Historiker und Mediziner vorgestellt, „ausgebildet an den amerikanischen Elite-Universitäten Pennsylvania und Yale, war in Washington, DC als Experte für Atomwaffenpolitik tätig, bevor er sich der Medizin zuwandte. Als die Ukraine-Krise eskalierte, setzte er sich erneut mit Fragen von Krieg und Frieden auseinander und erkannte, wie er sagt, ‘das steigende Risiko eines Atomkriegs’“. (S. 3) Alle folgenden Zitate aus einem Vorabdruck mit dem vielsagenden Titel: „Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte. Die Rolle der USA und der NATO in der Ukraine-Krise.“ Abelow beruft sich im Rahmen seiner Abhandlung auf namhafte Experten: „Dabei stütze ich mich auf die Analysen mehrerer Wissenschaftler, Regierungsvertreter und Militärbeobachter, wie zum Beispiel John Mearsheimer, Stephen F. Cohen, Richard Sakwa, Gilbert Doctorow, George F. Kennan, Chas Freeman, Douglas Macgregor und Brennan Deveraux.“ (S. 6)
(Der link: https://weltwoche.ch/wp-content/uploads/wewo2022_43_UKRA-1.pdf)
Zur Einordnung: Die betreffenden Experten – speziell der erwähnte Mearsheimer – gehören in die Abteilung des politologischen „Realismus“: „Der Realismus … ist eine Denkschule innerhalb der politikwissenschaftlichen Disziplin Internationale Beziehungen, die sich mit dem Charakter und der Verteilung der Macht im internationalen System auseinandersetzt. Nach realistischer Auffassung ist das wichtigste Ziel jedes Staates das eigene Überleben. Das lasse sich am besten dadurch sichern, dass er mächtiger ist als seine potentiellen Gegner. … Die souveränen Nationalstaaten befinden sich so in einem permanenten Überlebenskampf untereinander und ihre Außenpolitik ist ausschließlich von diesem Kampf bestimmt.“ (wikipedia, Stichwort „Realismus“) „Internationale Politik beruht auf Kooperationen oder Konflikten … [Akteure sind] durch ihre eigenen Interessen motiviert (‘Egoismus’); die Interaktion … verläuft beständig vor dem Hintergrund eines möglichen Gebrauchs materieller Macht … (‘Machtzentrismus’).“ (ebd., „Internationale Beziehungen“)
Das einmal vorweg; die Realisten – nomen est omen – wollen also der Frage nachgehen, worum es denn nun wirklich in der internationalen Politik geht, jenseits der „Sonntagsreden“ und der geschönten Deklarationen politischer Repräsentanten, und sie antworten: „Es geht um die Macht!“ Nun, dass Staaten ständig mit der Erhaltung, Sicherung und Erweiterung ihrer Macht befasst sind, gegeneinander, das lässt sich schwer bestreiten; die Frage nach dem warum und wofür ist allerdings mit dem erwähnten Ziel des „Überlebens“ schon den Sprachregelungen der Staaten entnommen; denn das behaupten sie noch alle, wenn sie Krieg führen – mehr wollen sie nicht?!
Von den USA lernen! Dadurch „Putin verstehen“!
Wie dem auch sei, die entscheidende, nur vordergründig paradoxe Quelle dieser speziellen amerikanischen Putin-Versteher ist – ihr USA-Verständnis! Die Zusammenfassung von Abelow:
„Seit beinahe 200 Jahren, nämlich beginnend mit der Formulierung der Monroe-Doktrin im Jahre 1823 erheben die Vereinigten Staaten von Amerika den Anspruch, praktisch auf der gesamten westlichen Hemisphäre für Sicherheit zu sorgen. Jegliche ausländische Macht, die ihre Streitkräfte in der Nähe von US-Territorium aufstellt, weiß, dass sie eine klar gezogene Grenze überschreitet. Dementsprechend ist das politische Verhalten der USA von der Überzeugung geprägt, dass es von entscheidender Bedeutung ist, wo ein potenzieller Gegner seine Einheiten stationiert. Tatsächlich ist diese Überzeugung der Kernpunkt der amerikanischen Außen- und Militärpolitik. Wer diese verletzt, riskiert einen Krieg. Wenn es jedoch Russland betrifft, verstoßen die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten bereits jahrzehntelang gegen diesen Grundsatz. Sie haben sich bei der Aufstellung ihrer Streitkräfte schrittweise immer näher auf Russland zubewegt, bis hin an die russischen Grenzen. Dabei haben sie nicht ausreichend berücksichtigt – ja, manchmal sogar schlichtweg ignoriert –, wie die russische Regierung diesen Vorstoß wahrnehmen könnte. Hätte Russland sich in Bezug auf amerikanisches Hoheitsgebiet ähnlich verhalten und seine Streitkräfte etwa in Kanada oder Mexiko stationiert, dann wäre Washington in den Krieg gezogen und hätte diesen als Abwehr eines militärischen Eindringens einer ausländischen Macht erklärt.“ (S. 6)
Ja, das wird schon so sein: Wenn Russland analog gegenüber den USA gehandelt hätte, bei der Stationierung von Streitkräften, dann wäre der große Krieg längst im Gang! Dieses spezielle „Putin-Verständnis“ basiert allerdings auf einer entscheidenden „Schwachstelle“: Seit der guten alten Monroe-Doktrin ist einiges passiert. Die USA haben zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg gewonnen, und haben darüber die von ihnen beanspruchte Hemisphäre ihrer Sicherheit gewaltig ausgedehnt, auf die ganze Welt nämlich; wie das der aktuelle selbsternannte globale Menschenrechtsbeauftragte Joe Biden gern vorträgt. Atlantik und Pazifik sind längst je ein „mare nostrum“ der USA. Insofern glänzt der beanspruchte „Realismus“ dieses politikwissenschaftlichen Ansatzes durch Ignoranz, denn der Vorhalt, die USA würden gegen einen eigenen „Grundsatz“ verstoßen, der blamiert sich daran, dass die USA – und das ist kein Geheimnis! – darauf bestehen, selber die höchste und alleinige Instanz zu sein, die Grundsätze für sich und alle anderen Nationen festlegt, und die sich dafür auf ihr eigenes Recht und auf das Völkerrecht beruft, um beides zur Deckung zu bringen. Jene Grundsätze, die die USA für sich beanspruchen, die gestehen sie noch lange nicht anderen zu; die ständige russische Beschwerde über „double standards“, also das westliche Messen nach zweierlei Maß, das geht in diesem Sinn an der Sache meilenweit vorbei: Der einzige aus Sicht der USA gültige Standard besteht eben im Anspruch, selber alle gültigen Standards zu setzen und zu exekutieren, zuerst „theoretisch“ über Recht und Unrecht auf dem Globus zu befinden, und wenn nötig, den Befund auch per Krieg durchzusetzen. (Gemessen an dem Anspruch ist Russland ziemlich unhandlich!) Auch was „Kanada oder Mexiko“ betrifft, so ist für den Autor völlig klar und „realistisch“ unstrittig, dass diese Staaten unter amerikanischer Aufsicht stehen, sich den Bedürfnissen der USA unterzuordnen haben, jedenfalls nicht die Subjekte ihrer eigenen militärischen oder bündnispolitischen Zuordnung sind. Dieser Gedankenfigur – Was würden sich denn die USA niemals bieten lassen? – bleibt die Abhandlung von Abelow treu; er variiert den Gesichtspunkt in verschiedenen Szenarien:
„Wie würde die Führung der USA in der umgekehrten Situation reagieren … Würde die US-Regierung die mündlichen Zusicherungen Russlands akzeptieren, dass seine Absichten friedlich sind? Natürlich nicht. … Die Militärstrategen und Politiker der USA würden sich mit dem offensiven Potenzial der Waffen und Trainingsübungen befassen. Sie würden den erklärten Absichten keine Beachtung schenken und sich ernsthaft bedroht fühlen. … Die USA würden den Abzug der Raketen verlangen. Wenn diese Forderung nicht umgehend erfüllt wird, könnten die USA mit einem Präventivschlag auf die Raketenbasen reagieren. Das könnte wiederum einen allgemeinen Krieg und womöglich eine Eskalation bis hin zu einem thermonuklearen Schlagabtausch auslösen.“ (S. 16f.)
Eine Absage an das Feindbild-Narrativ …
Der Autor unterwirft sich also nicht dem üblichen Prinzip der Konstruktion von Feindbildern: Die Normalform dieser Gemälde besteht darin, dem Feind genau das als „Verbrechen“ vorzuwerfen, was die „eigene“ Seite als ihr gutes Recht beansprucht, schon weil sie eben selbst und niemand sonst ihre Rechte definiert. Dem verweigert sich Abelow, und dagegen nimmt er explizit Stellung:
„Angesichts der Intensität dieses Kriegsfiebers dürfte es nicht überraschen, dass die wenigen US-Politiker, die über die seltene Kombination aus Klarheit und Mut verfügen, die für eine offene Diskussion über die Hintergründe des Ukraine-Kriegs nötig ist, als Verräter bezeichnet werden. In Wahrheit sind sie Patrioten. Sie weigern sich, beim von Stammesdünkel geprägten Spiel ‘Mein Land kann kein Unrecht begehen’ mitzumachen. Sie erkennen unbequeme historische Fakten als das an, was sie sind, … sie wollen verstehen, wie sich diese Fakten auf die Gegenwart auswirken, insbesondere im Hinblick darauf, wie sich Tod und Zerstörung in der Ukraine begrenzen lassen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit einer apokalyptischen nuklearen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen verringert werden kann.“ (S. 24)
Nun, den stinknormalen Patriotismus – und der lebt vom Dogma ‘Mein Land kann kein Unrecht begehen’! – als überholten „Stammesdünkel“ aus der heutigen Politik ausgrenzen zu wollen, das ist kein so gelungener Einfall. Aber immerhin, gegen die hierzulande herrschende Meinung, völlig überraschend und grundlos und ohne jede Plausibilität habe Russland den Krieg begonnen, dagegen nun setzt Abelow die Erinnerung an die ebenso bekannten wie unbequemen und daher kleingeredeten Fakten des westlichen Vormarsches; als kleine Gedächtnisstütze, wie Politik und Krieg zusammenhängen – und was die „Verantwortungspresse“ kleinredet. Die USA …
… und eine Erinnerung an gewisse Fakten
„– Sie haben die Nato mehr als 1500 Kilometer nach Osten erweitert und sie unter Missachtung von Zusicherungen, welche Moskau zuvor gegeben wurden, bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt.
– Sie haben den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty/Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen) einseitig gekündigt und antiballistische Trägersysteme in den neuen Nato-Staaten aufgestellt. Diese können auch offensive Nuklearwaffen, wie zum Beispiel mit Nuklearsprengköpfen bestückte Tomahawk-Marschflugkörper, aufnehmen und auf Russland abfeuern.
– Sie haben dazu beigetragen, den Weg für einen bewaffneten, rechtsextremen Staatsstreich in der Ukraine zu bereiten und ihn möglicherweise sogar direkt angezettelt. Durch diesen Coup wurde eine demokratisch gewählte prorussische Regierung mit einer nicht gewählten prowestlichen Regierung ersetzt.
– Sie haben zahlreiche Nato-Manöver nahe der russischen Grenze durchgeführt. Dazu gehörten zum Beispiel Übungen mit scharfen Raketen, welche Angriffe auf Luftabwehrsysteme in Russland simulieren sollten.
– Sie haben ohne zwingende strategische Notwendigkeit und unter Missachtung der Bedrohung, welche ein solcher Schritt für Russland bedeuten würde, der Ukraine die Aufnahme in die Nato versprochen. Die Nato weigerte sich später, diese Politik aufzugeben, selbst wenn dadurch ein Krieg hätte verhindert werden können.
– Sie haben sich einseitig aus dem INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces/ Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag) zurückgezogen, was Russland noch anfälliger für einen Erstschlag der USA macht.
– Sie haben im Rahmen bilateraler Abkommen das ukrainische Militär mit Waffen ausgerüstet und ausgebildet und dafür regelmäßig gemeinsame Manöver in der Ukraine abgehalten. Dies hatte zum Ziel, eine militärische Zusammenarbeit auf Nato-Ebene (die sogenannte Interoperabilität) herzustellen, und zwar schon vor einer formellen Aufnahme der Ukraine in das Militärbündnis.
– Sie haben die ukrainische Führung zu einer kompromisslosen Haltung gegenüber Russland veranlasst und dadurch einerseits die Bedrohung für Russland weiter verschärft und andererseits die Ukraine der Gefahr einer militärischen Reaktion Russlands ausgesetzt.“ (S. 9)
Von einem positiven historischen Gegenbeispiel zum westlichen Vormarsch der letzten 30 Jahre, nämlich von einem Kompromiss kann Abelow auch berichten; er erwähnt die Kuba-Krise und eine dazu gehörige populäre Fehldeutung, weil die „russischen Warnungen vor einem Atomkrieg … von den meisten westlichen Medien als reine Propaganda heruntergespielt“ (S. 8) werden. Also: Konfrontation müsste doch nicht unbedingt sein, oder ließe sich durch Verhandlungen auflösen!
„1962 stationierten die Sowjets Atomraketen auf Kuba und lösten dadurch die Kubakrise aus. Dies geschah kurz nachdem die USA mit nuklearen Sprengköpfen bestückte Jupiter-Raketen in der Türkei stationiert hatten, was jedoch weniger bekannt ist. Beendet wurde die Krise schließlich dadurch, dass die Sowjets ihre Raketen im Rahmen einer geheimen Vereinbarung zwischen den USA und der Sowjetunion abzogen. … Wie vereinbart zogen die USA in aller Stille ihre Raketen aus der Türkei ab – mehrere Monate nachdem die Sowjets ihre Raketen aus Kuba abgezogen hatten. Der Zusammenhang zwischen dem Abzug der Raketen wurde nicht öffentlich gemacht. Deshalb zogen viele im Westen aus der Kubakrise eine falsche Lehre. Sie schlussfolgerten fälschlicherweise, dass die USA durch eine unerbittliche Zurschaustellung von Stärke und die Androhung einer nuklearen Eskalation ein hochriskantes strategisches Spiel gewonnen hatten. Tatsächlich wurde ein Atomkrieg durch einen Kompromiss vermieden.“ (S. 17)
Das war eben der Stand von vor 60 Jahren; seither sind die USA erheblich weiter, aber Abelow ist offenbar nicht wirklich überzeugt, von dieser Erfolgsgeschichte. Dabei erinnert gerade er daran, wie weit es die USA inzwischen, nach 60 Jahren Aufrüstung und nach dem Systemwechsel der ehemaligen Sowjetunion, und durch diesen Systemwechsel, bis heute gebracht haben, u.a. durch Fortschritte wie diesen:
„Die USA beschwichtigten Putins Bedenken gegenüber den ABM-Standorten mit der Zusicherung, dass sie keine Absicht hätten, die Abschussrampen für einen offensiven Einsatz zu konfigurieren. Diese Antwort verlangt jedoch von den Russen, selbst in einer Krise auf die erklärten Absichten der USA zu vertrauen, anstatt anhand des Potenzials der Systeme eine Bedrohungsanalyse durchzuführen. Es trägt nicht zu Russlands Sicherheitsgefühl bei, wenn in der Aegis-Marketingbroschüre von Lockheed Martin … festgehalten wird: ‘Das System kann in jeder Zelle jede beliebige Rakete aufnehmen … ’“ (S. 14) usw. etc.
„Putin verstehen“: Unrealistisch und unamerikanisch!
Die sehr lesenswerte Abhandlung von Abelow – auch wenn ich die Schlussfolgerungen nicht teile – ist ein Abriss der US-Politik und des Vormarsches in die Ukraine, wie es eben der Titel besagt: „Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte.“
(Der link: https://weltwoche.ch/wp-content/uploads/wewo2022_43_UKRA-1.pdf)
Die unhinterfragte Prämisse und damit der Kardinalfehler der Analyse besteht in einem Dogma, das diesen Ansatz sowohl als zutiefst unrealistisch, als auch als zutiefst unamerikanisch kennzeichnet: Abelow geht davon aus, dass der Atomkrieg nun einmal nicht zu gewinnen, und daher eine militärische Konfrontation unbedingt zu vermeiden ist. Und da kennt er den american spirit, der sich bekanntlich von keiner frontier aufhalten lässt, ganz schlecht! Die von Abelow penibel aufgelisteten Erfolge der amerikanischen Rüstungsanstrengungen belegen bloß, dass die USA mit etwas anderem befasst sind als mit Abelows Anliegen – nämlich der kompromisslosen Verhinderung des großen Krieges! Der Zustand, der als „atomares Patt“ bekannt war, und der seinerzeit als Einrichtung zur Kriegsverhinderung interpretiert werden sollte, der hat sich für die amerikanischen Strategen – und das sind die praktizierenden „Realisten“ der Kriegsplanung – immer als ein Dilemma und ein Problem dargestellt, aus dem es herauszukommen galt und gilt: Dass sich beide Seiten vernichtende Vergeltungsschläge androhen konnten, war aus dieser Sicht immer eine Beschränkung der eigenen Kriegsfähigkeit, die unbedingt zu überwinden war. Insofern ist der zusammenfassende Befund von Abelow völlig verkehrt: „Die westliche Politik gegenüber Russland und der Ukraine ist eindeutig gescheitert.“ (S. 24)
Gescheitert? Ja wieso denn? Es läuft doch richtig gut, derzeit! Für die USA! Russland ist massiv geschädigt, in jeder Hinsicht; nur die Ukraine ist kaputt und auf dem Weg „zurück in die Steinzeit“; doch Selenskyj ist weiter entschlossen, Leute und Land zu opfern, für seine durch den Westen und dessen Lieferungen ausgeborgte scheinhafte „Souveränität“; Europa als Kapitalstandort ist durch den Wirtschaftskrieg und die dadurch bewirkte Rezession ökonomisch schwer bedient; und auch militärisch mit den bisher neutralen Ländern Finnland und Schweden mehr denn je in die transatlantische Bündnisdisziplin genötigt – und die USA sind mitten im Krieg mit so spannenden Fragen beschäftigt wie Abtreibung, Inflation und „wer ist ein aussichtsreicher Kandidat für die nächste Präsidentschaftswahl“ …
Es wäre schon wünschenswert, wenn Abelow mit der gleichen beanspruchten theoretischen Distanz, mit der er das rationale Kalkül der russischen Kriegspolitik zu ermitteln versucht, wenn er dementsprechend auch das rationale Kalkül der US-Kriegspolitik analysieren würde. Ihm ist doch völlig klar, dass Putin nicht von einer „Paranoia“ getrieben wird, sondern einen strategischen Plan hat – aber sein Vorwurf der „Dummheit“, „Blindheit“ und „Feigheit“ (S. 30) trifft genau sowenig die tatsächlichen Maximen der US-amerikanischen und der europäischen Politik. Abelow zitiert Fiona Hill, von ihm vorgestellt als eine „Washington Insiderin“ und „Russland Hardlinerin“; und die sagt – gegen die Kinderei, Putin werde von „Emotionen“ gesteuert, wie Abelow:
„Ich denke, es gibt einen logischen, methodischen Plan, der sehr weit zurückreicht, zumindest bis 2007, als er [Putin] der Welt und insbesondere Europa zu verstehen gab, dass Moskau die weitere Ausweitung der Nato nicht akzeptieren wird. Und 2008 – also innerhalb eines Jahres – öffnete die Nato die Tür für Georgien und die Ukraine. … Eine unserer Einschätzungen lautete, dass ein echtes, ernsthaftes Risiko für eine präventive Militäraktion Russlands bestand, die sich nicht nur auf die Annexion der Krim beschränkt, sondern sich in einem viel größeren Umfang gegen die Ukraine und Georgien richten wird.“ (S. 21)
Dass die NATO-Osterweiterung der hinreichende Grund für eine militärische Antwort Russlands ist, darin stimmen Hill und Abelow überein – nur nimmt sie das ganz gegenteilig nicht als Hindernis und als eine unüberwindbare und zu respektierende Schranke, sondern als Auftrag, eben auch dieses „ernsthafte Risiko“ zu beherrschen! So geht Realismus! Und wenn Russland sich das nicht gefallen lässt, dann ist Putin eben der neue „Hitler“!
Als abschließender Tipp eine ausführliche Gegendarstellung aus dem Jahr 2019, vor dem Krieg, deren Wiedergabe den Rahmen dieser Beiträge sprengen würde. In GegenStandpunkt 3-19:
„Nicht erst unter Trump, unter Trump aber in neuer Entschiedenheit: Die amerikanische Weltmacht treibt die Entmachtung ihres russischen Rivalen voran“.
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/usa-treiben-entmachtung-ihres-russischen-rivalen-voran
Penibel recherchiert aus öffentlich zugänglichen Quellen, wird da analysiert, wie entschlossen, und wie sorgfältig und umsichtig die westliche Weltmacht vorgeht.
Eine Sorgfalt, die übrigens auch die Art und Weise kennzeichnet, in der die USA den Krieg in der Ukraine anlegen und führen lassen. So wurden die verzweifelten Anträge Selenskyjs auf den direkten Einstieg der NATO in den Krieg deutlich abgelehnt, vorgetragen etwa anhand einer möglichen Katastrophe durch eine Havarie des AKW Saporischschja, ebenso wie nach der ukrainischen false-flag-Rakete auf Polen. Nicht die Ukraine verheizt die NATO, es ist umgekehrt; in der Ukraine hat Russland nach wie vor freie Hand, auf Basis eines von den USA geographisch und waffenmäßig ziemlich genau abgesteckten konventionellen Schlachtfeldes; diskrete Kontakte „behind“ dürfen vermutet werden, das amerikanische Bedürfnis nach Atomwaffendiplomatie ist jedenfalls nach wie vor gegeben. Die ernste Befürchtung Abelows, da könnte durch Irrtümer und Fehleinschätzungen auf Basis eines grundverkehrten „Narrativs“ ein von niemandem gewollter atomarer Schlagabtausch in Gang kommen – die ist jedenfalls haltlos.
Literatur:
Benjamin Abelow, „Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte“:
https://weltwoche.ch/wp-content/uploads/wewo2022_43_UKRA-1.pdf
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/usa-treiben-entmachtung-ihres-russischen-rivalen-voran
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/rueckblick-auf-10-monate-krieg-ukraine
Und eine kleine Recherche in Sachen Nord Stream 2:
https://www.youtube.com/watch?v=NSZyKYitC3M