Literatur oder Selbsthilfegruppe (Perlentaucher CXLVIII)
Bevor wir diesmal in unsere Bilderwelt aus Musik und Literatur eintauchen, wollen wir auf die Herkunft ihres heutigen Titels verweisen: Vor 15 Jahren war der Verleger Jochen Jung in der Sendung “Gierig auf Lyrik” zu Gast und äußerte dort, dass er mitunter den Eindruck von “Selbsthilfegruppe” gewinne, wenn er manchen Darbietungen zeitgemäß wirken wollender Lyrikpräsentation beiwohne. Worauf er mit dieser Formulierung anspielte, lässt sich inzwischen gut nachhören. Wir nehmen seine Ermutigung zur Selbstkritik und der damit einhergehenden Selbstreflexion zum Anlass, den etwa zu jener Zeit im Rahmen der ARGE Noah 2007 als Performance-Oper aufgeführten Text “mark will leben” einer kritischen Überarbeitung zu unterziehen – und im Radio vorzustellen:
“Dieser Text erzählt exemplarisch die Geschichte von einem unter lebensbedrohlichen Bedingungen heranwachsenden Menschenkind und dessen oftmals verzweifelten Versuchen, einen Sinn in seinem Dasein zu begründen. Dabei zeigt er die Gefahren des Schweigens und der Vereinsamung auf – und stellt dem die Perspektiven eines künstlerischen Selbstausdrucks in Gemeinschaft mit anderen gegenüber. Und das ist wohl nur eine erste, äußere Schicht, wie bei der Zwiebel. Rein formal bedient sich das Wortkonglomerat bei verschiedensten Ausdrucksweisen und springt von songtextartigen Strukturen über Stream-Of-Consciousness-Passagen zu Tagebucheinträgen eines vielleicht 15-jährigen und dann weiter zu dramatischen Elementen. Will das überhaupt das sein, was man allgemein unter Literatur versteht? Das, was man allgemein unter Selbsthilfegruppe versteht, das will es jedenfalls nicht sein. Aber – was will es?
Bei seiner Entstehung mischen sich ebenfalls vielfältige Eindrücke ineinander: Erinnerungen an eigene traumatische Erfahrungen, spontane Assoziationen mit Erzähltem und Miterlebtem, Eindrücke von Gesehenem, Gelesenem sowie sonst in der Kunst Dargestelltem, Träume und Phantasien, Besuche in der eigenen Kindheit, Groteskes und Monströses aus dem Fundus verdrängter Familiengeschichte. Verschiedene Versuche, hinter den Vorhang nicht nur des eigenen Abgespaltenen zu spüren und etwas von jenem Teil seiner selbst zu erahnen, der einem so verborgen wie verboten erscheint. Immerhin stellen wir uns mit ausreichendem zeitlichem Abstand nicht die Frage, was uns “der Dichter” damit sagen will – sondern fragen den Text selbst, was er möchte. Das ist ein erster Schritt zur Freiheit der Kunst – von ihrer ewigen (und überaus lästigen) Interpretation durch all die Deuter und Bedeutler, bei denen man sich doch stets die Frage “Cui bono?” (zu wessen Vorteil?) stellen sollte, die ich hier allerdings mit “Was habt ihr davon?” übersetzen würde. Doch ich deute nur an.”
Der Kontext der Veranstaltung war nämlich die sinnhafte Notwendigkeit einer außerhalb der Deutungs- und Bedeutungshoheit hergebrachter gesellschaftlicher Anpassungs- und Verwertungszwänge stattfindenden Jugendkultureinrichtung, eines im besten Sinn des Wortes autonom verfassten Kunsterlebnisraums, der sowohl Selbsterfahrungs- als auch Gestaltungsmöglichkeiten offen zugänglich anbieten könnte. Und deshalb will der Text “mark will leben” das zugleich selbst- wie auch gesellschaftstherapeutische Potential von eben nicht nur Literatur, sondern jedweder aus eigenem Verwirklichungsbedürfnis entstehender Kunst aufzeigen. Er will einladen ins Unbekannte, mitnehmen ins Verdrängte und mit dem im Weggemachten Lebenden vertraut machen. Vielleicht verstört er dabei die eingefahrene Gewohnheit der Weltbetrachtung, vielleicht zerstört er dabei auch das eine oder andere längst bestehende Urteil über unmöglich Erscheinendes …
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