Krieg um die Ukraine: Rückblick und Ausblick

21.09.2023

„So sehen wir also, dass der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln. Was dem Kriege nun noch eigentümlich bleibt, bezieht sich bloß auf die eigentümliche Natur seiner Mittel.“ (Generalmajor von Clausewitz, Vom Kriege)

Krieg um die Ukraine:
Rückblick und Ausblick

Der Rückblick befasst sich mit der Frage, inwiefern der Krieg ein „Instrument“ der Ukraine ist oder sein soll, der Ausblick betrifft eine in Russland inzwischen diagnostizierte Untauglichkeit des konventionellen Krieges und der eigenen atomaren Abschreckung.

Rückblick Ukraine:
Ein „Staatsfeind“ aus Österreich in der Ukraine

Der bisherige ORF-Korrespondent in der Ukraine hat Schwierigkeiten mit den dortigen Behörden und seiner Akkreditierung. Es sind nicht die ersten. In der „Krone“ vom 6. März 2022 – zwei Wochen nach Kriegsbeginn – gab Christian Wehrschütz zu Protokoll, womit er sich dort schon vor dem Krieg unbeliebt gemacht hatte:

„Ich habe immer gesagt: Kein Soldat der NATO wird bereit sein, für die Ukraine zu fallen, arrangiert euch mit Russland! Deshalb war ich ja ein Staatsfeind.“ (Wehrschütz)

Gut, auch in der NATO entscheidet nicht der Soldat, ob er „bereit ist, für die Ukraine zu fallen“ –, der kriegt auch in der NATO Befehle und wird nicht nach seinen Bedürfnissen gefragt. Und wenn er fällt, dann fällt er sicher nicht für die Ukraine oder für Afghanistan oder für den Irak oder für den Kosovo oder für Syrien oder für Libyen – sondern er fällt für den Anspruch der NATO, gleich Anspruch der USA, über die politischen Verhältnisse in der Ukraine etc. usw. zu entscheiden.

„Ich habe immer gesagt: Kein Soldat der NATO wird bereit sein, für die Ukraine zu fallen, arrangiert euch mit Russland! Deshalb war ich ja ein Staatsfeind.“

Bemerkenswert an dem Spruch ist die Einstellung des Publikums, das dem Berichterstatter quasi Wehrkraftzersetzung vorgeworfen hat, ihn als „Staatsfeind“ eingestuft hat! Es gab offenbar das „Narrativ“, wie die offiziellen Sprachregelungen heutzutage genannt werden, sich mit Russland nicht arrangieren zu müssen, entlang des „Minsker Abkommens“, weil ohnehin beizeiten die NATO auf der Matte steht und zuschlägt. Gab es also in der Ukraine eine „Lügenpresse“, die dergleichen über die NATO verbreitet hat, und ein dementsprechend ahnungsloses Publikum?

Die mit „Minsk“ eingeleiteten Verhandlungen über eine „Friedenslösung“ im Donbass durch eine Föderalisierung der Ukraine waren da schon längst ohne jeglichen Fortschritt versandet. „Die Ukraine, sagt Mangott, habe vieles blockiert, der ukrainische Präsident Selenskyj habe selbst das Format in Frage gestellt.“ (Mangott, Uni Innsbruck, profil 9/2022) Im Nachhinein behaupten Frau Merkel und Herr Hollande, für Deutschland bzw. Frankreich 2014 und 2015 in „Minsk“ federführend, sie hätten ohnehin nur der Ukraine Zeit für die Aufrüstung verschaffen wollen, also von Anfang in betrügerischer Absicht verhandelt; aber die gute Sache rechtfertigt aus der Sicht der Guten eben auch den Betrug. Siehe auch:
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/minsker-abkommen
https://weltwoche.ch/daily/frankreichs-ex-praesident-gesteht-dass-die-eu-schon-lange-vor-der-eskalation-am-ukraine-konflikt-beteiligt-war-die-westliche-erzaehlung-von-der-weissen-weste-broeckelt/

Wenn man sich den ukrainischen Präsidenten damals wie heute anhört, dann wiederholt der unermüdlich die Vorstellung von der NATO als einer Art Hilfsorganisation, in Form der Enttäuschung. Die NATO lässt sich jedenfalls nicht von der Ukraine nach deren Bedürfnissen benutzen. Selenskyj berief sich in seinen Klageliedern allerdings schon auf eine gültige „Doktrin“, nämlich auf die Militärdoktrin seines Landes: Darin beauftragt die Ukraine sich, einen Krieg mit Russland um die Krim und um die Separatistengebiete im Donbass anzuzetteln, und weil sie den nicht gewinnen kann, soll die „internationale Gemeinschaft“ – gemeint ist die NATO – für die Ukraine den Krieg führen und gewinnen. Diese Militärdoktrin wurde auch in Russland zur Kenntnis genommen. Kurz, die Doktrin basiert auf der Fiktion, die Ukraine wäre schon NATO-Mitglied oder würde spätestens mit dem Krieg quasi automatisch Mitglied werden; weil er dieser Fiktion widersprochen hat, wurde Wehrschütz zum „Staatsfeind“. Nun kann man sicher diskutieren, ob die Ukraine von allein auf diese Idee gekommen ist, oder ob sie durch die Weigerung der USA, gegenüber Russland einen Verzicht auf die ukrainische NATO-Mitgliedschaft zu garantieren, geködert wurde. Von Seiten der USA wurde ja so getan, als ob die NATO ein weit offenes Haus sei, in das jeder Staat nach Belieben eintreten könnte, was nicht ganz der Wahrheit entspricht.

„Selenskyj wiederholte sein Vorhaben, sein Land in EU und NATO zu führen. Und auch die NATO bleibt dabei: Im Sommer und Herbst wurde noch einmal betont, dass die Ukraine Mitglied der Allianz werden sollte. Dabei war allen klar, dass das nicht geschehen wird. Die Ukraine wäre der NATO auf absehbare Zeit nicht beigetreten. … Die NATO habe ihre Politik der offenen Türe verteidigt, obwohl niemand die Ukraine aufnehmen wollte …“ (profil 9/2022) Wer hat da jetzt wen betrogen? Das Ergebnis ist jedenfalls eindeutig: Nicht die Ukraine benutzt die NATO, es ist umgekehrt. Die Ukraine wird verheizt und darf ausbluten, um Russland zum Nutzen der NATO in einen längeren Krieg zu verwickeln – dafür gibt es dann Unterstützung, dafür kämpft die NATO und die EU bis zum letzten Mann, bis zum letzten Ukrainer natürlich.

Warum konnte sich die Ukraine nicht mit Moskau „arrangieren“?
Ökonomisch heruntergekommen durch Verwestlichung …

Mit der nationalen Unabhängigkeit der Ukraine beginnt der nationale Abstieg. Die Ukraine ist durch 30 Jahre Verwestlichung, durch die Öffnung für und die Unterordnung unter westliche Interessen zum „failed state“ „abgesandelt“, ist aus der Abwärtsspirale nach dem Systemwechsel nicht mehr herausgekommen. („Die Ukraine leidet seit ihrer Unabhängigkeit unter schweren wirtschaftlichen und demografischen Problemen. Seit ihrer Unabhängigkeit sank die Einwohnerzahl um mehr als 6,25 Millionen Menschen. Das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine erreichte im Jahr 2012 nur noch 69,3 % des Wertes von 1990.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Ukraine#Unabh%C3%A4ngigkeit) Die wesentlichen Momente dieses Abstiegs sind:

Erst einmal die Abtrennung vom früheren gemeinsamen Sowjet-Wirtschaftsraum mit dem Abbruch bisheriger essentieller Lieferketten und den folgenden ökonomischen Verwerfungen; die ukrainische Wirtschaft hat Märkte und Lieferanten in gewaltigem Ausmaß verloren. Folgt sodann die Umstellung der Wirtschaft auf einen neuen Zweck, nämlich den privaten Profit, verkörpert in der sympathischen Figur des Oligarchen; diesem neuen Zweck waren beachtliche Teile der Ökonomie, die dafür ursprünglich nicht eingerichtet waren, nicht gewachsen – übrigens ebenso wie in Russland. Nach ganzen 17 Jahren der nationalen Unabhängigkeit war die Ukraine pleite, international zahlungsunfähig – gemeint ist die Staatspleite des Jahres 2008 im Gefolge der westlichen Finanz- und Staatsschuldenkrise, weil die Ukraine damals schon so total vom West-Finanzkapital abhängig war; seither wurde und wird die Ukraine vom Internationalen Währungsfonds kreditiert wie andere Länder der Dritten Welt und war bzw. ist den üblichen Erpressungen ausgesetzt; auch wenn der IWF inzwischen wegen des Krieges seine Leitlinien gegenüber der Ukraine geändert hat. Dazu kommen die Ultimaten aus Europa, um Geschäftsgelegenheiten für westliches Kapital zu generieren und russische Lieferanten endgültig hinauszudrängen; Gelegenheiten für eine europäische Konkurrenz, der die vorhandene ukrainische Wirtschaft nicht gewachsen war. Exemplarisch auch die Privatisierung von Grund und Boden, im Interesse auswärtiger Investoren. Kommt dazu, als endgültiger Beweis des nationalen Scheiterns, diesmal allerdings aus der anderen Himmelsrichtung: die Annexion der Krim und die Etablierung der Separatisten im Osten.

Resultat: Der Abstieg vom früheren Industrieland zum Exporteur von Agrargütern (Weizen, Sonnenblumen) und Rohstoffen. Und – bis heute – zum Transitland für den Export von Öl und Gas aus Russland nach Westeuropa, „Blutgeld“ für den Transit durch die Ukraine inbegriffen. Die Ukraine wurde durch Verwestlichung schon vor dem Krieg zum Armenhaus, zum Auswanderungsland, zum Exporteur von Migranten, zum Fall für den IWF. Das friedliche Mitmachen in der „regelbasierten“ westlichen Weltwirtschaftsordnung führt zu Niedergang und Verfall, der Friede hat es nicht gebracht, für die Ukraine. Kommt dazu die völkische Spaltung durch den Russland-affinen Bevölkerungsteil. Ein britischer Wirtschaftshistoriker hat mit dem Befund resümiert, die Ukraine galt als „gescheitertes Projekt“, musste sich vom IWF drangsalieren lassen:

„Tooze: Ohne westliche Hilfe wäre das Land nicht lebensfähig. … Wenn man wirklich an der Fortführung dieses Krieges von der ukrainischen Seite her interessiert ist, dann sollte man sich über die Frage ‘Panzer liefern: ja oder nein?’ hinaus intensiver damit beschäftigen, wie sich die ukrainische Heimatfront stabilisieren lässt. … Wenn es um die langfristige Finanzierung des Staates geht, stellen sich schnell Fragen nach der Rolle der Oligarchen in Kiew und nach der Korruption dort. … noch vor zwölf Monaten war die weitläufige Ansicht in den Hauptstädten Europas und in Amerika, dass die Ukraine im Grunde ein gescheitertes politisches Projekt ist, jedenfalls von wirtschaftlicher Seite.“ (Im Jänner dieses Jahres: Standard 12.01.2023)

völkisch gespalten …

Das westliche Interesse an einem ukrainischen Frontstaat gegen Russland hat dem failed state eine andere Karrierechance eröffnet. Der Vormarsch der EU und der NATO nach Osten wurde 2014 gestoppt, durch die russische Annexion der Krim und die Etablierung der Separatistenrepubliken im Donbass; und dann durch die Aufrüstung der Ukraine nach NATO-Standards weiter vorangetrieben. Wir erinnern uns: Nach dem Regimewechsel in Kiew – wahlweise ein Aufstand der Zivilgesellschaft oder ein vom Westen orchestrierter Putsch gegen einen demokratisch Gewählten –, sofort danach jedenfalls begann im Donbass – wahlweise – ein Aufstand der russisch-affinen Bevölkerung gegen die „Ukrainisierung“, oder (ist gleich) ein von Russland orchestrierter und unterstützter Separatismus. Die Kampfhandlungen wurden durch die Abkommen von Minsk eingefroren, unter Patronanz von Deutschland und Frankreich: Russland hätte durch ukrainische Verfassungsänderungen de facto den Status einer Schutzmacht der russischen Minderheit erlangen sollen. Dieses Abkommen wurde jedenfalls von der Ukraine nach Ermunterung durch die USA und Großbritannien – die mit „Minsk“ nichts zu tun haben wollten – hintertrieben und für obsolet erklärt, der Krieg der Ukraine gegen die Separatistengebiete im Donbass stetig intensiviert. Die dortigen toten Zivilisten, Jahre vor der Eskalation durch Russland, waren im Sinne der West-Propaganda wertlos und wurden nicht hochgespielt.

und mit neuer westlicher Perspektive:
Der Krieg als Vater einer neuen Ukraine

Für das Vorhaben, durch Krieg die eigene Nation voranzubringen, gibt es einen bezeichnenden Präzedenzfall: „Im August 2008 eskalierte der Südossetien-Konflikt erneut und es kam zum offenen Krieg mit Russland, gemäß einem späteren EU-Bericht angestoßen durch Georgien: Nach wiederholten Scharmützeln begann die georgische Armee, in Fehleinschätzung der eigenen militärischen Möglichkeiten, einen Angriff auf Südossetien.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Georgien#Seit_2000) „Anfang August (2008) sieht der georgische Staatschef den Zeitpunkt gekommen, sein Wiedervereinigungsprogramm einen entscheidenden Schritt voran zu bringen und die abtrünnige Republik Südossetien gewaltsam heimzuholen. Dass ihm dabei ein übermächtiger Gegner im Weg steht, er sich mit Russland als Schutzmacht der Osseten anlegen muss, die den größten Teil der Bevölkerung mit russischen Pässen ausgestattet hat und mit einigen Hundert Mann in der gemischten georgisch/ ossetisch/ russischen Friedenstruppe präsent ist, die das Konfliktfeld seit dem letzten Krieg der beiden Kaukasus-Völker in den 90er Jahren überwacht – das weiß keiner besser als Saakaschwili selbst. Seine Berechnung ist kein Geheimnis: er eröffnet den Krieg im Bewusstsein der Rückendeckung durch die USA und ihren Nato-Anhang, nimmt eine Eskalation der lokalen Auseinandersetzung zu einem Konflikt der Großmächte nicht nur in Kauf, sondern setzt geradezu auf sie.“ (https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/konflikt-suedkaukasus)

Dieses „Angebot“ auf Eskalation wurde von der NATO bzw. George Bush jr. damals nicht angenommen – da hätten die NATO-Mächte doch tatsächlich mit eigenen Truppen intervenieren, den Krieg selber führen müssen, weil die georgischen Streitkräfte dazu nicht taugen. (Georgien steigert übrigens schon länger seine Militärausgaben und will Mitglied der NATO werden.)

Die Ukraine wieder hat schon länger versucht, sich für die USA militärisch nützlich zu machen, um darüber an Bedeutung zu gewinnen. So beim verbrecherischen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak:

„Während des Irakkrieges 2003 war die Ukraine an der Koalition der Willigen beteiligt und entsandte 1.650 Soldaten mit militärischem Gerät in den Irak. Mit seinem Kontingent verfügte das Land über die sechstgrößte Truppenstärke im besetzten Irak. Es befand sich im territorialen Zuständigkeitsbereich Polens.“
(https://de.wikipedia.org/wiki/Ukrainische_Streitkr%C3%A4fte)
„Als Koalition der Willigen oder als Koalition der Wollenden (im englischen Original „coalition of the willing“) bezeichneten insbesondere die US-amerikanischen Gründer dieser Koalition eine Allianz von Staaten, die den völkerrechtswidrigen Angriff der USA im Frühjahr 2003 auf den Irak im Dritten Golfkrieg politisch und militärisch unterstützten.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Koalition_der_Willigen)

Deutschland und Frankreich hatten damals verweigert, ihnen war die Rolle als US-Hilfstruppen einfach zu minder und ein irgendwie gearteter nationaler Nutzen nicht absehbar. Ost-Staaten wie Polen, die Ukraine und auch Georgien ergriffen hingegen die Gelegenheit, sich für die USA militärisch zu engagieren, um sich darüber als Bündnispartner zu empfehlen. In gewisser Weise hat das auch geklappt, aber ganz anders …

Ausblick: Auf den Atomkrieg?

Mit der „Spezialoperation“ Februar 2022 hat dann Russland eskaliert – diese Bezeichnung ist übrigens keine Verharmlosung, sie wollte zu Beginn den begrenzten Charakter des Krieges unterstreichen. Daraus ist nichts geworden, weil der Westen massiv eingestiegen ist. Inzwischen hat sich, nicht zuletzt durch die von Anfang an betonten russischen Hinweise auf die atomaren Streitkräfte des Landes, zumindest in der kriegsgeilen westlichen Öffentlichkeit eine bemerkenswerte Neu-Interpretation eines altehrwürdigen Dogmas etabliert. Gemeint ist die Vorstellung, wegen der drohenden Vernichtung der Menschheit allgemein und der kriegführenden Atommächte speziell sei der atomare Schlagabtausch ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit. Was da in der Art einer unbezweifelbaren Grundtatsache einige Jahrzehnte lang „den Frieden“ gesichert haben soll, war allerdings nie eine Tatsache, ein selbstverständliches Faktum, sondern die Übereinkunft zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. Russland, ihre keine Sekunde lang sistierten Gegensätze ohne den Angriff auf die staatliche Existenz des Gegners, auf sein Territorium und damit ohne Rückgriff auf diese „letzten Mittel“ der strategischen Kriegsführung auszutragen. Die diverse Stellvertreterkriege nach 1945 kennzeichnen den damit installierten „Friedenszustand“. Neuerdings wird das Dogma vom atomaren Patt und der Unmöglichkeit des Atomkriegs von der West-Öffentlichkeit um eine entscheidende Interpretation weiterentwickelt: Weil der Atomkrieg ohnehin unmöglich ist und die diesbezüglichen Erinnerungen Russlands also nichts zu bedeuten haben – deswegen kann der konventionelle Krieg gegen Russland hemmungslos radikalisiert und eskaliert werden! Diese Vorstellung kann sich zumindest auf eines berufen: Auf die fortgesetzte Überschreitung von neulich noch selbst definierten westlichen „Roten Linien“ im Krieg, die als Selbstbeschränkungen gesehen werden sollten. Anfangs hieß es von Seiten der NATO, „keine Angriffswaffen“, weil man die Ukraine nur bei der „Verteidigung“ unterstützen würde; dann waren Panzer, Flugzeuge und die Reichweite von Raketenwerfern und Marschflugkörpern ein Thema; dann gab es die Parole von den „Angriffen auf russisches Territorium“, die die Waffenlieferanten der Ukraine nicht erlauben wollten, usw. usf.

Diese Radikalisierung vom konventionellen Krieg gegen Russland als frei verfügbares Mittel, die hat in Russland inzwischen eine bemerkenswerte Debatte losgetreten: Ob nicht der Einsatz von Atomwaffen in absehbarer Zeit unvermeidlich sei, um den Respekt vor der russischen atomaren Abschreckung wiederherzustellen. Die akademisch versierten Autoren der Diskussionsbeiträge haben zur Kenntnis genommen, dass die russische strategische Atommacht den Westen in der Ukraine an gar nichts hindert, und machen sich so ihre Sorgen, die übrigens im neuen „GegenStandpunkt“ analysiert werden. Leseprobe:

„Im Prinzip liegen Atomwaffen in der russischen Politik seit Beginn des Ukraine-Konflikts ‘auf dem Tisch’, um die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten von einer Einmischung in den Konflikt abzuhalten. Dennoch haben die wiederholten öffentlichen Hinweise des russischen Präsidenten und anderer Beamter auf den nuklearen Status Russlands die schleichende Eskalation der Beteiligung von NATO-Staaten an den Feindseligkeiten in der Ukraine bisher nicht verhindert. Infolgedessen hat sich gezeigt, dass die nukleare Abschreckung, auf die sich viele in Moskau als zuverlässiges Mittel zur Sicherung der vitalen Interessen des Landes verlassen hatten, sich als ein Instrument von sehr viel geringerem Nutzen erwiesen hat.“ (Dmitri Trenin, Replik auf Sergej Karaganow: „Eine schwere, aber notwendige Entscheidung: Der Einsatz von Atomwaffen könnte die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren“)

„Der Logik nach besteht die Lösung darin, den Einsatz zu erhöhen, also in einer raschen Eskalation auf der nuklearen Konfliktleiter. Kurz gesagt: eine Krise von solchem Ausmaß zu schaffen, dass der Westen schockiert und gezwungen wäre, seine Haltung gegenüber Russland völlig zu überdenken und es in Ruhe zu lassen, auch indem er einem neuen Status quo in der Ukraine zustimmt. Das Einzige, was einen derartigen Schock auslösen könnte, ist der tatsächliche Einsatz von Atomwaffen, jedoch ohne dass der Atomkonflikt auf die Ebene strategischer Waffen eskaliert. Obwohl dies logisch erscheint, ist die Umsetzung dieses Ansatzes äußerst gefährlich. Dieser Ansatz unterschätzt die westlichen Eliten und ihre Entschlossenheit, die Eskalationsleiter mit Russland zu erklimmen und ihm gegebenenfalls zuvorzukommen.“ (Iwan Timofejew, Replik auf Karaganow)

Die links zu den erwähnten Aufsätzen finden sich hier:

https://de.gegenstandpunkt.com/sites/default/files/artikel/karaganow.pdf
https://de.gegenstandpunkt.com/sites/default/files/artikel/timofejew.pdf
https://de.gegenstandpunkt.com/sites/default/files/artikel/trenin.pdf

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