Gedenken zum 84. Jahrestag der Novemberpogrome
Der Autor Vladimir Vertlib und der Zeitzeuge Erwin Rammerstorfer sprechen mit Marina Wetzlmaier über Gewalt- und Fluchterfahrungen und die Auseinandersetzung mit dem Trauma. Außerdem im FROzine: Die Kämpfe um Boden: Die Bewegung für Ernährungssouveränität – eine weitere Ausgabe von Grund und Boden – Von Eigentumsfragen und Lebensgrundlagen.
„Die Angst hat mich sehr geprägt“
Am 9. November wird der „Reichspogromnacht“ von 1938 gedacht. Es war die Nacht, in der Nationalsozialisten überall in Österreich und Deutschland jüdische Menschen misshandelten, verschleppten oder ermordeten, sowie jüdische Geschäfte und Synagogen in Brand setzten. In Linz brannte die Synagoge in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 völlig ab. Erwin Rammerstorfer war damals 6 Jahre alt. „Die Angst hat mich sehr geprägt“, erzählt der Zeitzeuge im Interview. Die Pogromnacht war der Auftakt für den Holocaust, der systematischen Vernichtung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden.
Erwin Rammerstorfer verbrachte seine Kindheit in Haid im Bezirk Linz Land. Dort wurde er Augenzeuge der Todesmärsche vom April 1945. An die 22.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden von den Konzentrationslagern Mauthausen-Gusen ins Anhaltelager von Gunskirchen getrieben. 55 Kilometer weit. Wer erschöpft zurückblieb oder zusammenbrach, wurde von den SS-Männern erschlagen oder erschossen. Der Todesmarsch führte an Rammerstorfers Schulweg vorbei. Er war damals 12 Jahre alt.
Vladimir Vertlib: „Ich bemühe mich um mehr Empathie in der Gesellschaft“
Anlässlich des 84. Jahrestags der „Reichspogromnacht“ lud die Welser Initiative gegen Faschismus am 8. November 2022 zur „Gedenkkundgebung für die Opfer von Rassismus und Fremdenhass“. Redner war der Autor Vladimir Vertlib.
Vladimir Vertlib ist 1966 im heutigen St. Petersburg als Sohn jüdischer Eltern geboren. Mit seiner Familie flüchtete er vor dem staatlich beförderten Antisemitismus der Sowjetunion. Seine Migrationsgeschichte führt über zahlreiche Zwischenstationen: Israel, Österreich, Italien, Niederlande, USA, bis die Familie schließlich ab 1981 endgültig in Österreich bleiben kann. Von diesen erzählt auch sein Roman „Zwischenstationen“.
Im Vorfeld der Gedenkkundgebung in Wels hat Marina Wetzlmaier mit Vladimir Vertlib gesprochen. Er schildert zunächst die Bedeutung von Gedenken aus seiner Sicht und die Verbindung zwischen Geschichte und Gegenwart.
„Es ist eine Mahnung an uns Heutige. Wenn wir daran erinnern, denken wir nicht nur an die Vergangenheit, sondern auch auch an die Gegenwart und die Zukunft. Und auch daran, dass wir hellhörig und hellsichtig bleiben.“
Vertlib lebt und arbeitet als freiberuflicher Schriftsteller in Wien und Salzburg. Seine Migrationserfahrungen spiegeln sich in seinen literarischen Werken wieder. Speziell der Roman Zwischenstationen beschreibt die Aufenthalte seiner Familie an verschiedenen Orten der Welt. Geprägt von seiner Flucht- und Migrationsgeschichte, seinen Erfahrungen mit der Suche nach Zugehörigkeit, setzt sich Vertlib heute für mehr Empathie in der Gesellschaft ein.
„Jede Flucht- und Migrationserfahrung ist prägend und führt zu einer Unbehaustheit. Zu einer Ambivalenz der Identität und der Zuschreibungen. Zu einer Mehrfachidentität. Man hat kein so klares Fundament.“
Die Kämpfe um Boden: Die Bewegung für Ernährungssouveränität
In dieser Ausgabe der Sendereihe „Grund und Boden – Von Eigentumsfragen und Lebensgrundlagen“ geht es um das Nyéléni Herbsttreffen der Bewegung für Ernährungssouveränität, welches vom 28. bis zum 30. Oktober 2022 in Krems stattfand.
Nyéléni ist der Name einer legendären malischen Bäuerin, die eine zentrale Figur für die Ernährungssouveränität ihrer Region und Gemeinschaft darstellte. In Mali fand 2006 das erste weltweite Forum für Ernährungssouveränität statt.
In Krems trafen sich Lebensmittelproduzent*innen, Verarbeiter*innen, Helfer*innen, NGOs, Interessensvertretungen und Wissenschaftler*innen, um über Strategien für ein zukunftsfähiges Lebensmittelversorgungssystems zu beraten und sich weiterzubilden. Ein Beitrag in Deutsch und Englisch von David Steinwender.
Informationen auf https://ernährungssouveränität.at/
Am Mikrofon: Pamela Neuwirth
Ähnliche Beiträge
- Gedenkkultur ohne Antifaschismus ist zu wenig aus der Sendereihe „Werkspost. Der politische Salzburg-Kommentar....“ 21.08.2024 | Radiofabrik
- Folge 21: Niemals vergessen! aus der Sendereihe „Richtig & Falsch“ 27.05.2024 | Orange 94.0
- 31/03/2024 – Feministische Perspektiven auf Antisemitismus aus der Sendereihe „Anarchistisches Radio“ 31.03.2024 | Orange 94.0
- 17/03/2024 – Antifaschismus im Comeback?! (A-Radio Berlin) aus der Sendereihe „Anarchistisches Radio“ 17.03.2024 | Orange 94.0
- WiderstandsChronologie 4. bis 16. Feber 2024 aus der Sendereihe „WiderstandsChronologie“ 17.02.2024 | Orange 94.0
- WiderstandsChronologie 21. Jänner bis 3. Feber 2024 aus der Sendereihe „WiderstandsChronologie“ 03.02.2024 | Orange 94.0
- #stimmlagen: Kunstkollektiv EXTASIER I Interview KZ-Verband Salzburg I Gehen... aus der Sendereihe „#Stimmlagen – Das Infomagazin der Freien...“ 31.01.2024 | Radio FRO 105,0
- unerhört! Basics der Psychotherapie 1.0 I Kunstkollektiv EXTASIER I Interview... aus der Sendereihe „unerhört! Das Magazin — offen & vielschichtig“ 27.01.2024 | Radiofabrik
- Protest gegen rechtsextremen Burschenbundball aus der Sendereihe „FROzine“ 25.01.2024 | Radio FRO 105,0
- Protest Bündnis Linz gegen Rechts | Online-Streetwork | Diskriminierung am Arbeitsplatz aus der Sendereihe „#Stimmlagen – Das Infomagazin der Freien...“ 25.01.2024 | Radio FRO 105,0