Eine Leitkultur für die nationale Identität

03.04.2024

Aus Anlass des Leitkulturkampfs der ÖVP:
Nationale Identität

Die ÖVP übernimmt geistige Führung …

„Grundlage dafür ist ein Punkt aus dem ‘Österreich-Plan’ des Chefs der Volkspartei: Darin fordert er bis 2030 ‘eine österreichische Leitkultur, die sich auch als nationales Kulturgut gesetzlich widerspiegeln soll’. Sie solle sicherstellen, ‘dass Symbole und Verhaltensweisen, die unseren Grundwerten entgegenstehen, rechtlich differenziert behandelt werden können’.“ (Standard 28.3.2024)

– Wenn bei ÖVP-Politikern ein abweichendes Verhalten vermutet wird, dann ist das Strafrecht die einzig relevante und völlig ausreichende Leitlinie der Leitkultur; diese Kleinigkeit ist natürlich prompt „kritisch“ registriert worden.
– Ebenso der kleine Unterschied, welche Verhaltensweisen gegenüber Frauen denn nun leitkulturwidrig sein sollen wie das verweigerte Händeschütteln – die hierzulande traditionell übliche „häusliche Gewalt“, die „Familientragödie“, die „Beziehungstat“, der „Femizid“ wurden bislang von der ÖVP in dem Zusammenhang nicht erwähnt.
– Dass das gern beispielhaft erwähnte „Brauch-Tum“ wie das Aufstellen von Maibäumen und das Anlegen von Trachtenbekleidung im österreichischen Alltag völlig un-brauch-bar ist, daher unterbleibt und extra inszeniert werden muss, um es dann als „unsere“ Bräuche überhaupt bestaunen zu können, das erweist dem guten Zweck auch keinen Bärendienst:

Wenn es darum geht, neue Definitionen des hierzulande angeblich eh’ traditionell Üblichen erst noch zu definieren, um dann endlich fremde Sitten auch rechtlich diskriminieren („differenziert behandeln“) zu können, also neue Tatbestände zu schaffen – nun, das werden die Machthaber schon noch hinkriegen. Vor allem, wenn es darum geht, die gute alte Idee der „Leitkultur“ den Identitären zu klauen, die sie bloß „missbrauchen“ … (ÖVP-Generalsekretär Stocker)

… und schon geht die Debatte los!

Sodann wurde im „Standard“ eine kleine Debatte initiiert, um jenseits der „Schweineschnitzelpflicht“ einer ganz wichtigen Frage nachzugehen:

„Was macht eine:n Österreicher:in aus?“ Denn es „braucht jede Gruppe, vom Freundeskreis bis zum Staat, eine (oft sehr schwammige) Gruppenidentität für gemeinsame Werte um zu funktionieren. Wie sieht diese für Österreicher:innen aus? Haben wir noch eine Gruppenidentität oder ist die Gesellschaft schon zu gespalten?“ (29.3.2024, link: Was macht eine:n Österreicher:in aus? – meinForum – derStandard.at › Diskurs)

Was könnte das denn sein, diese „Identität“ in „gemeinsamen Werten“? Offenbar in erster Instanz die Bereitschaft, jeden Schmarren, der von oben kommt, bereitwillig aufzugreifen und sich zum Anliegen zu machen: Nicht alle, aber manche Österreicher zeichnen sich anscheinend schon dadurch unverwechselbar aus, dass sie sich sofort um das Österreichertum den Kopf zerbrechen, sobald von oben, von einer Regierungspartei, ein entsprechender Bedarf geäußert wird – da hätten wir also schon mal eine gewisse Untertanenmentalität als potentielle Nationaleigenschaft … Die Frage im „Standard“ mutet nichtsdestotrotz einigermaßen rätselhaft an. – Denn jede „Gruppe“, um diese Diktion ein Stück weit mitzumachen, die hat je schon ihre Identität, sonst wäre es ja keine Gruppe. Insofern sollte doch ein kleiner Blick auf die jeweilige Herde, auf die Meute, die Rotte oder die Schar genügen, um deren Identität dingfest machen zu können, vom „Sportklub Rapid“ und seinen Fans bis zum Verein der „Freunde der Salzburger Festspiele“.

Eine eklatante Minderheit der im Standard diskutierenden Leute kann auch mit einem durchaus lichten Moment bezüglich der Frage aufwarten, was den Österreicher zu einem solchen macht: Es ist die Staatsbürgerschaft der Republik Österreich, die einen zum Österreicher macht, lauten einige wenige Antworten. Stimmt! Wer von der Republik als ihr Bürger anerkannt und mit den darin inkludierten Rechten und Pflichten ausgestattet wird, der gehört dazu. Zum österreichischen Volk nämlich, das dadurch praktisch definiert ist. Im Unterschied zur Wohnbevölkerung etwa. Das, was „die Österreicher“ tatsächlich gemeinsam haben, das existiert außerhalb der betreffenden Leute, genauer gesagt, es befindet sich über ihnen: Es ist „ihre“ Obrigkeit, „ihre“ politische Herrschaft, der sie unterworfen sind, und die sie als die „ihren“ anerkennt, im Unterschied zu Ausländern, die anwesend sind.

Die Österreicher: Keiner theoretischen Definition bedürftig!

Das „muss“ natürlich nicht so sein – oder doch, aber ganz anders: Da besteht keinerlei höhere Notwendigkeit, das ist schlicht und einfach eine Gewaltfrage. Ein österreichischer Bürger konnte, so er es altersmäßig gepackt und die Kriege überlebt hat, in die ihn „sein“ jeweiliger Staat geschickt hat, unter Umständen vier Staatsangehörigkeiten und die damit einhergehenden Metamorphosen seiner nationalen Identität absolvieren: Bis 1918 bestand die damalige Großmacht Österreich-Ungarn, die sich als Vielvölkerstaat verstanden hat; danach war deren ehemaliger Bürger womöglich ein Österreicher in der Ersten Republik mit dem weitverbreiteten Bedürfnis nach dem Anschluss an Deutschland; das Bedürfnis wurde 1938 erfüllt und der ordentliche Bürger war Deutscher; nach der Niederlage 1945 war er wieder Österreicher in der Zweiten Republik – nichts als Gewaltfragen. Ein unverwüstliches Exemplar hatte also die Gelegenheit, seiner Pflicht zum Dienst am Staat gegenüber nicht weniger als vier Vaterländern zu gehorchen, Pedanten unterscheiden sogar noch innerhalb der Ersten Republik die demokratische von der austrofaschistischen Etappe – und der gute Bürger hatte in aller Regel noch immer nicht „die Schnauze voll davon“, wie er es während seiner Zeit als ostmärkischer Reichsdeutscher formuliert haben könnte!

Aber, soll das wirklich alles gewesen sein? Der Staat, dem man gehorcht, bloß die nach Innen überlegene Gewalt; oder gar die früher nach Außen unterlegene und von einer siegreichen äußeren eingesetzte Gewalt; die Dienstbarkeit des anständigen Bürgers bloß der Opportunismus der Unterwerfung unter die jeweilige Herrschaft – natürlich immer unter genau die, die gerade existiert – egal ob demokratisch oder faschistisch, im Frieden wie im Krieg!? Oder die Tugend des Realismus, gegenüber dem, was ohnehin „nicht zu ändern ist“, ganz ohne es jemals versucht zu haben … Ein halbwegs nüchterner Blick auf die Verhältnisse, ganz ohne vorschnelle Identifikation mit der „eigenen“ nationalen Gemeinde würde womöglich den Einstieg in eine ebenso nüchterne Abrechnung eröffnen, würde Dienste am Ertrag messen und vermutlich eine blamable Bilanz ergeben.

So sieht das allerdings nur eine kleine Minderheit; ansonsten macht sich auch im „Standard“ ein nur in Ausnahmefällen ironisch gemeintes Bedürfnis breit, doch und irgendwie letztlich schon so etwas wie eine übergreifende gemeinsame Mentalität, eine ideelle innere Übereinstimmung der Bürger, oder gleich verbindende Werte entdecken zu wollen. Das Verhältnis zum äußerlichen Staat, das dabei ständig und selbstverständlich unterstellt ist, ohne explizit Thema zu sein, genau dies Verhältnis will unbedingt als eine inwendige Eigenschaft der Betroffenen interpretiert werden. Die begleitende Unzufriedenheit mit den vielen zitierten Versatzstücken – die nationale Moral und Unmoral, nationale Erfolge oder Misserfolge, Sitten und Gebräuche etc. – ändern aber nichts am ungebrochenen Bedürfnis nach solchen Innerlichkeiten. Die Beiträge der Debatte belegen zugleich beeindruckend das Scheitern dieses Anliegens, indem da alles Mögliche aufgelistet und in die Meinungszirkulation durcheinandergeworfen wird, wobei die Beiträge sowohl in ihren Differenzen als auch in den jeweiligen Ausprägungen höchstens belegen, dass es auf sie überhaupt nicht ankommt, damit Leute im Sinne Österreichs „funktionieren“. Denn dafür genügt völlig, sich im Großen und Ganzen an die Gesetze zu halten, und sich den ökonomischen Sachzwängen zu unterwerfen: Das ist schließlich, was „Österreich“ im richtigen Leben praktisch ausmacht – ein Ensemble politischer Anordnungen, juristischer und ökonomischer Mechanismen, durch die die gemeinsame Benutzung der Bevölkerung organisiert ist, je nach individueller Stellung in der Klassengesellschaft. Das Bedürfnis nach einer verinnerlichten „nationalen Identität“ ist, so angetan auch manche Bürger ihr ersehntes inneres Band diskutieren mögen, ist eines der Obrigkeit; und das mit durchaus praktischen Ansprüchen:

WIR sind das Volk!

Was alle diese völkischen Versatzstücke leisten sollen, ohne als völkische überhaupt wahrgenommen zu werden, das ist die Vereinnahmung der Bürger zu einer Untertanenmannschaft, die sich nicht in dieser tristen Rolle, sondern als Auftraggeber „ihrer“ Herrschaft sieht, und die deswegen von vornherein dabei und dafür ist. Und das jenseits jeder willentlichen Entscheidung zum Staat – diese soll eben eine eingeprägte Eigenschaft des Individuums sein, wg. Sprache, Kultur, Lebensart, Tradition etc.; früher mal wegen des Blutes bzw. heute öfter wieder wegen der Biologie oder der DNA oder den „Wurzeln“. Die relevante Frage, warum so ein Vereinnahmter denn bei Österreich mitmachen soll, vielleicht noch entlang des Kriteriums, was denn hier verlangt und was geboten wird, ob es sich also halbwegs lohnt – die kann sich in diesem Verständnis gar nicht stellen. Man ist durch Faktoren, die sich einfach nicht vermeiden lassen – Sprechen, Lebensgewohnheiten innerhalb des „way of life“ ausbilden, die Vergangenheit, die Gene, die Kultur etc. – immer schon national dabei, jenseits jeder gut oder schlecht begründeten individuellen Entscheidung. Und man ist nicht nur dabei, man ist – was ja nicht identisch sein muss – zwangsläufig auch noch dafür, weil man diese Versatzstücke als „eigene“ individuelle Ausprägungen zu begreifen hat, und deswegen immer schon für das gleich gestrickte Kollektiv eintritt! Die Idee der nationalen Identität steht für das bombenfeste, alternativlose, verbindliche Mitmachen des Individuums, aber ohne äußerlichen Zwang oder Befehl, sondern als individuelle Determination; also noch verlässlicher als jede erzwungene Teilnahme, wo Auflehnung immerhin möglich wäre, und insofern bedingungslos strapazierfähig. Dass man von vornherein parteiisch ist, das muss der Staat nicht verlangen, weil dem nun einmal so ist, und das ist niemandem vorzuwerfen, eben weil dem einfach so ist, als politischer Naturzustand. Jede allfällige Kritik und jede Missbilligung hat daran ihren Maßstab und ihren Bezugspunkt: Vom Erfolg der Nation her darf und soll – zumindest in der Demokratie – schon problematisiert und kritisiert werden, für die Nation und in deren Interesse darf und soll auch allerlei Verbesserungsbedarf angemeldet werden, aber eben dafür. „Wir“ sind also keinesfalls Leute, die sich eine Qualitätskontrolle vorbehalten; die zuerst überprüfen, was sie denn in der Republik Österreich realiter vor sich haben, welches System der politischen Ökonomie hier eingerichtet ist und verwaltet wird, nach welchen Gesichtspunkten sich Arbeit und Reichtum so eindeutig verteilen – und zwar, bevor „wir“ „uns“ ans Weltverbessern machen. „Wir“ sind je schon dabei und dafür.

Die Leitkultur in der täglichen Praxis: „Immer wieder, immer wieder … WIR“!
(Aus: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/volk)

Für die Vermittlung dieser spontanen Empfindung wird einiges getan. Zuerst und vor allem von einer kritischen Öffentlichkeit. Ganz frei und aus eigener Initiative stellt die sich schon in ihrer wertfreien, sachlichen Berichterstattung auf den Standpunkt einer 1. Person Plural, die ideell nicht mehr und nicht weniger umfasst als die Nation: „Wir“. Die Medien agieren als Wahrnehmungsorgan des Volkes und vereinnahmen mit größter Selbstverständlichkeit ihr Publikum für einen Blick auf die Welt, der schon parteiisch ist, noch bevor es ans Urteilen und Kommentieren geht. Denn mit der Perspektive des kollektiven Subjekts verbinden sich wie von selbst fein abgestufte Betroffenheiten durch den Weltenlauf und das Interesse, dass ‘wir’ möglichst gut dabei wegkommen – sei es bei einer kriegerischen Verwicklung oder beim Wetter –, dass ‘uns’ gelingt, was ‘wir uns’ vornehmen – die Vermehrung der Kinderzahl pro Frau, die Senkung der Arbeitslosenziffern … –, dass ‘die Unsern’ Erfolg haben – beim Fußballspielen wie beim Export – usw. Ob das der Fall ist, wie gut oder schlecht der Lauf der Welt sich in ‘unserem’ Sinne fügt, darüber dürfen die ausdrücklich als solche deklarierten Meinungen dann durchaus auseinander gehen; hier kommt dann auch jede partikulare Unzufriedenheit zu ihrem Recht, wird nämlich von irgendwem mit dem passenden kritischen Kommentar – über widrige Umstände auswärts, hinterlistige Konkurrenten, Versager in den eigenen Reihen … – bedient. Der Standpunkt, dass es in allem Weltgeschehen letztlich und entscheidend auf ‘unser aller’ Bestes ankommt, bleibt dabei voll in Kraft; er durchzieht als gemeinsamer Nenner die vielen freien Meinungen, ist die selbstverständliche Grundlage aller ernstzunehmenden Urteile und markiert so den Umkreis dessen, was als ehrbare Ansicht gelten kann.

Das Bedürfnis der ÖVP: Ein „WIR“ jenseits jedes Alltags!

Die alltägliche Gewöhnung an einen parteilich voreingenommenen vaterländischen Blick auf die Welt reicht den Advokaten eines echten Patriotismus allerdings noch lange nicht; zumal sie in der Vielfalt besorgter Auffassungen schon wieder Interessen-Partikularismus am Werk sehen und Entzweiung befürchten. Sie möchten eine fraglos selbstverständliche und zugleich ausdrückliche Identifizierung des Volkes mit der nationalen Sache haben, eine explizite Parteinahme für das nie in Frage gestellte, jeder Parteinahme zugrunde liegende nationale ‘Wir’. … Dabei greifen ausgewiesene Demokraten zielstrebig zu den Mitteln, die schon immer und überall in Gebrauch sind, wo eine Herrschaft ihre Identität mit ihren Untertanen beschwört. Sie präsentieren dem Volk den höchsten Amtsträger des Staates, gerne eine Symbolfigur außerhalb und oberhalb jeden Parteienstreits, als Repräsentanten des allgemeinen, tief im Volk selbst verwurzelten Staatswillens und treiben um die Person einen Kult, den eine allzeit zu Kritik aufgelegte Öffentlichkeit im Falle mangelnder Überzeugungskraft sowie in fremden Ländern als ‘Personenkult’ durchschaut und verachtet; sie lassen die Spitzenfigur an hohen Festtagen Reden halten, die sie schon vorher für ‘groß’ erklären, Bauwerke von nationaler Bedeutung ihrer Bestimmung übergeben, Orden verteilen, mit denen das Gemeinwesen bewährte Bürger und in diesen sich selber ehrt, usw. So verschaffen die Hüter der rechten Gesinnung der Macht einen ‘Sympathieträger’; etliche moderne Demokratien halten sich für diesen Zweck sogar eigens eine Monarchie mit einer unendlichen Familiengeschichte, in deren Höhen und Tiefen das bürgerliche Familientier sein eigenes Privatleben in gehobener, zur Staatsaffäre verallgemeinerter Fassung wiederentdecken und die Herrschaft menschlich und sogar liebenswert finden kann. An nationalen Feiertagen, einem unentbehrlichen Requisit patriotischer Volksbildung, werden große Stunden der nationalen Geschichte, vorzugsweise bedeutende Siege, aber nicht nur, zu Gegenständen kollektiver Erinnerung aufbereitet, so als hätte das Publikum sie als eigenes Schicksal miterlebt. Der Opfer wird gedacht wie eigener persönlich Vertrauter; so fungieren sie als Beweisstücke für die Großartigkeit des Vaterlands, für das sie nicht geopfert wurden, sondern sich geopfert haben und das man als Nachfahre schon deswegen in höchsten Ehren zu halten hat. Nach der in der Praxis doch recht wirksamen Maxime, dass der demonstrative Vollzug ehrerbietiger Rituale – solange niemand lacht – auf die Gesinnung abfärbt und für ehrerbietige Gefühle sorgt, wird bei solchen und anderen Gelegenheiten ein immer gleiches Loblied auf die Nation intoniert und ein buntes Tuch verglimpft: lauter Dinge, mit denen man gar nicht früh genug anfangen kann, damit sich schon im Stadium kindlicher Befangenheit, wenn die Kleinen sich an alles Mögliche gewöhnen müssen, ohne die Gründe dafür zu kapieren, die richtige Einstellung herausbildet, in der der Mensch dann auch als Erwachsener befangen bleibt.

Das Ergebnis: „WIR“ von unten sind das Volk!

Es bleibt nicht dabei, dass die Bürger sich an ihre Subsumtion unter eine nationale Staatsmacht gewöhnen und mit den dadurch gesetzten Lebensbedingungen gewohnheitsmäßig affirmativ umgehen. Die ‘Prägung’, die sie so erfahren und die ihnen zur ‘zweiten Natur’ wird, erkennen sie als ihr kollektives volksgemeinschaftliches ‘Wesen’ und Teil ihrer Persönlichkeit an. Sie verstehen sich als besonderer, durch Geschichte und Landschaft, Sprache und Tradition und anderes mehr verbundener und herausgehobener Menschenschlag, ganz jenseits ihrer alles andere als gemeinschaftsdienlichen wirklichen sozialen Verhältnisse in der Klassengesellschaft. Darin bekommt das Volk von seiner intellektuellen Elite auch voll Recht und erfährt Ermunterung und umfassende Anleitung. … Die Distanz zu den Massen kommt dabei andererseits nicht zu kurz: All die herablassenden Wortzusammensetzungen von der Volkshochschule bis zum Volkstanz, von den Volksbräuchen bis zum Volkstheater und vom Volksbad bis zur Volksbank machen schon im Sprachgebrauch deutlich, dass es sich beim Volk eben doch nicht einfach um die eine, alle Volksgenossen vereinende große Sippschaft handelt, sondern, Demokratie hin oder her, um die niedere Basis eines Herrschaftssystems. Soweit diese sich aber ihre Indienstnahme nicht nur gefallen lässt, sondern als ihre Volksnatur akzeptiert, wird ihr alle Ehre zuteil. Ihre volkstümlichen Sitten werden nicht bloß im Volkskundemuseum ausgestellt, sondern ebenso wie im Aussterben begriffene Dialekte gepflegt – ungeachtet des kleinen Widerspruchs, der nun einmal darin liegt, ein Brauchtum zu inszenieren, um es zu erhalten. Je weniger die nationale Klassengesellschaft noch mit einer ‘Ethnie’ zu tun hat – nicht einmal Ethnologen würden dieses Etikett ganz im Ernst auf eine moderne ‘Zivilgesellschaft’ anwenden –, umso intensiver bemüht sich die tonangebende Elite um eine Volkskultur: den Schein urwüchsiger Zusammengehörigkeit des Volkskörpers.

Zum Schluss: Volk, durch biologische Reproduktion!

Und beim bloßen Schein bleibt es nicht. Die Staatsgewalt höchstselbst belässt es nicht bei der Forderung nach einer volkseigenen ‘Leitkultur’ und deren Pflege. Sie betrachtet und behandelt ihre Eingeborenen als ihre ‘geborene’ Basis; nicht nur im Sinne der gesetzlichen Festlegung, dass die Abkömmlinge von Staatsangehörigen oder auch die auf dem Staatsgebiet zur Welt gekommenen Kinder per se dazugehören und nicht erst extra eingebürgert werden müssen. Auf nationalen Nachwuchs, auf eine Reproduktion ihres Volkskörpers aus eigener Aufzucht kommt es noch der modernsten Kapitalstandortverwaltung dermaßen an, dass sie beim Eintreffen problematischer Bevölkerungsstatistiken glatt um den Fortbestand ihres angestammten Volkes fürchtet und für eine ‘aktive Bevölkerungspolitik’ sogar gutes Geld in die Hand nimmt, um es an werdende Mütter und gewordene Eltern zu verschenken. Ganz so, wie ein anständiges Volk auf seiner Herrschaft besteht, so besteht eine nationale Herrschaft auf ihrem Volk; gerade so, als könnte sie sich auf ihre Bürger nur dann hundertprozentig verlassen, wenn die per Geschlechtsverkehr zwischen Landeskindern zustande gekommen sind. Auch der bürgerliche Staat des 21. Jahrhunderts will offenbar nicht bloß durch das gewohnheitsmäßige treue Mitmachen seiner Leute tagaus tagein politisch und ökonomisch reproduziert werden, sondern auch biologisch durch deren Gebärverhalten und Familienleben; nicht bloß bestimmende Umwelt seines Volkes, sondern in dessen Genen verankert sein. In diesem Sinne wirkt er jedenfalls auf seine Massen ein: gesetzlich, finanziell, und agitatorisch sowieso.
(Aus: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/volk)

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