Ein Kulturkampf für den Backlash
Ein Kulturkampf für den Backlash
Erstmals seit Jahrzehnten erlebe man europaweit einen gesellschaftlichen Backlash, angetrieben von Ländern wie Ungarn und Polen, bedauerte Shetty. (Abg. zum Nationalrat, NEOS)
Die folgenden Hinweise erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit:
Der Backlash grassiert nicht nur in Europa: In Teilen der USA ist die Abtreibung de facto verboten, ebenso wie in Polen, dort ist neulich angeblich wieder eine Frau gestorben, weil die Abtreibung verweigert wurde. (https://www.derstandard.at/story/3000000174261/tod-einer-schwangeren-bei-krankenhausbehandlung-empoert-polen)
Im Koalitionsabkommen von ÖVP und FPÖ 2023 in Salzburg erzielt ein Passus Aufmerksamkeit:
„Unsere Familien sind die Keimzelle der Gesellschaft, sie gezielt zu fördern und ihre Vielfältigkeit bestmöglich zu unterstützen und zu stärken ist unser Ziel. … Wir werden eine Informationskampagne des Landes zur Vermeidung ungewollter Schwangerschaft sowie zu Adoption und Pflegeelternschaft als Alternative zum Schwangerschaftsabbruch ausarbeiten. Zielführend wäre auch eine anonymisierte Studie, die das Alter der Frauen sowie auch die Gründe für Schwangerschaftsabbrüche aufzeigt, um das Beratungsangebot anpassen zu können.“ (Regierungsübereinkommen)
Völlig zurecht vermuten Kritiker, dass so eine „Studie“ die Voraussetzung schaffen soll, um die „aufgezeigten Gründe“ in mehr oder weniger gerechtfertigte zu sortieren.
In Wien erregen Dragqueens Aufsehen – hauptsächlich bei der FPÖ; die startet eine Kampagne gegen eine Lesung einer Dragqueen vor Kindern; ein SPÖ-Abgeordneter will eine Führung durch das Parlament gemeinsam mit einer solchen veranstalten, die FPÖ ist dagegen. Überschrift: „Rechtsextreme machen Stimmung gegen den Pride Month.“ (Standard 5.6.2023)
2021 eine Reform in Ungarn – das EU-Parlament und westeuropäische Regierungen protestieren:
„Präsident János Áder hat Ungarns ‘Anti-Pädophilen-Gesetz’ unterschrieben“ es soll „die verfassungsrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz von Minderjährigen“ erweitern. Das geht so: „Das geänderte Gesetz schützt Minderjährige, indem es den Zugang zu Pornografie und Inhalten verbietet, die Sexualität um ihrer selbst willen, Homosexualität und Geschlechtsumwandlung fördern.“
(https://ungarnheute.hu/news/praesident-ader-unterzeichnet-anti-paedophilen-gesetz-38717/)
„Das Recht des ungarischen Parlaments, Schulkinder vor der Beschäftigung mit der homosexuellen Problematik gesetzlich zu schützen ist evident und unbezweifelbar“ sagte Andrzej Przylebski (Polnischer Botschafter in Deutschland).
(https://ungarnheute.hu/news/polnischer-botschafter-in-deutschland-verteidigt-ungarns-umstrittenes-gesetz-87838/)
Wohlgemerkt, dieses „Anti-Pädophilen-Gesetz“ zum Schutz von Kindern vor der Beschäftigung mit der „homosexuellen Problematik“ soll Kinder davor „schützen“, überhaupt zu wissen, dass es homosexuelle Orientierungen und Transgender-Personen gibt, weil, wie der polnische Botschafter so schön formuliert, Homosexualität eine Problematik ist, die mit einem Anti-Pädophilen-Gesetz beantwortet gehört. Nicht die Anfeindungen, die Schwule erfahren, wenn sie politisch mit Pädophilie identifiziert werden, sind das Problem – sie sind es. Desgleichen gehören Kinder vor Pornografie geschützt bzw. vor Inhalten, die Sexualität um ihrer selbst willen fördern. Sexualität nicht um ihrer selbst willen – aha! Offenbar Zustände wie im Katholizismus.
„Vergangene Woche hat der Senat des US-Bundesstaats Florida ein umstrittenes Gesetz verabschiedet: Es verbietet den lehrplanmäßigen Unterricht über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität bei Kindern vom Kindergarten bis zur dritten Klasse. Auch gegenüber älteren Kindern und Jugendlichen sollen Lehrer nicht in einer ‘dem Alter von Schülern unangemessenen Art’ über diese Themen sprechen. … Die Republikaner wollen, so sagen sie, Kinder auf diese Weise vor Themen schützen, die sie nicht verarbeiten könnten – und sie wollen die Rechte von Eltern stärken. Diese können Schulen nämlich jetzt auch verklagen, wenn die sich nicht an ‘Parental Rights in Education’ halten – so passenderweise der Name des neuen Gesetzes. …
Bekannter ist es allerdings unter dem Namen ‘Don’t Say Gay’. Gegner und Aktivisten haben es so betitelt.“ (DW 20.3.2023)
(https://www.dw.com/de/dont-say-gay-gesetz-in-florida-wenn-sexualit%C3%A4t-in-der-schule-tabuthema-wird/a-61178673)
Dort, wo in der Schule das gesellschaftlich erwünschte, politisch approbierte Wissen vorgetragen wird – in etwa die offiziell erforderlichen Kenntnisse, um sich halbwegs zurechtzufinden –, dort sollen homosexuelle Menschen nicht vorkommen, vom Radar verschwinden, totgeschwiegen werden. Zumindest in dem für eine bestimmte Altersgruppe gültigen Weltbild. Die Abneigung der Gesetzgeber in Florida gegenüber Homosexuellen, die wird, wie schon in Ungarn, auf die lieben Kleinen projiziert, deren – von Natur aus? – homophobes Weltbild durch unschickliche Informationen schwer devastiert werden könnte. (https://orf.at/stories/3317856/)
„Giorgia Meloni setzt ihre Vorstellungen zur Gesellschaftspolitik um: Alles, was nicht der ‘natürlichen Familie’ entspricht, wird diskriminiert oder kriminalisiert.
… Italienische Paare, die selber kein Kind bekommen können und sich deshalb im Ausland an eine Leihmutter wenden, müssen künftig mit Strafen zwischen 600.000 und einer Million Euro und mit Gefängnisstrafen zwischen zwei Monaten und drei Jahren rechnen. Dies sieht ein Gesetz vor, das im italienischen Parlament am Mittwoch die erste Hürde genommen hat und voraussichtlich noch in diesem Monat definitiv verabschiedet wird. … Leihmutterschaften, muss man dazu wissen, sind in Italien seit 2005 verboten. Wer es sich finanziell leisten kann, geht deshalb ins Ausland, etwa nach Kanada, in die USA oder in die Ukraine, wo die Praxis erlaubt ist. Das sind nur wenige Hundert Paare pro Jahr, aber genug, um die italienische Rechte in Rage zu bringen. Damit die im Ausland begangene Straftat der ‘Gebärmuttervermietung’ auch in Italien geahndet werden kann, erklärt die Regierung die Praxis in ihrem neuen Gesetz kurzerhand zum ‘universellen Delikt’ – also zu einer Straftat, die nach dem sogenannten Weltrechtsgrundsatz auch dann im Inland geahndet werden kann, wenn sie im Ausland begangen wurde. Bei ‘universellen Delikten’ handelt es sich in der Regel um schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In Italien zählen bisher unter anderem Völkermord und Terrorismus dazu.“ (Standard 2.6.2023)
(https://www.derstandard.at/story/3000000172765/rom-faehrt-in-der-familienpolitik-mit-voller-kraft-rueckwaerts)
Im Kulturkampf hilft es m.E. halt nichts, auf harmlos zu machen oder sich naiv zu stellen, durch die Beteuerung, dass Schwule ohnehin niemandem was tun, und auch LGBTQ-Personen zusammenleben und füreinander Pflichten übernehmen können. Darum geht es den Rechten offenbar nicht:
„Wir sind schon sehr gefährlich für die Gesellschaft.
Zwei Männer, die sich seit vielen Jahren lieben und zusammenleben. Gestern haben wir abends gekocht (omg) und waren am Nachmittag eine Runde laufen (was, nein!!!) und am Samstag einen Wocheneinkauf gemacht (wtf!) beim Spar (solche Bonzen!). Von Montag bis Freitag arbeiten wir sogar Vollzeit (hilfe!) und zahlen sehr viele Steuern (gibts nicht!!!). Manchmal gönnen wir uns einen Urlaub (neiiin!!!) oder gehen ins Kino (igitt!). Wir fahren mit der Straßenbahn (:O) und der Ubahn (:´|) und treffen unsere Freunde (oh no). Wir sind so gefährlich, ich packs nicht.“ (Ein Posting im Standard vom 5.6.2023) (https://www.derstandard.at/story/3000000173105/wie-rechtsextreme-gegen-den-pride-month-stimmung-machen)
Und es hilft auch nichts, den Wert von LGBTQ-Familien als ein auch gesunder Teil der Gesellschaft zu betonen:
„Brandon Wolf von Equality Florida, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, Transgender- und queeren Menschen einsetzt, kritisiert im DW-Gespräch: ‘Es ist immer angemessen, die Existenz und den Wert von LGBTQ-Familien anzuerkennen – und dass wir ein normaler, gesunder Teil der Gesellschaft sind.‘“ (DW 20.3.2023)
(https://www.dw.com/de/dont-say-gay-gesetz-in-florida-wenn-sexualit%C3%A4t-in-der-schule-tabuthema-wird/a-61178673)
Offenbar wissen Teile der Betroffenen wirklich nicht, worum es im Kulturkampf geht.
Mann, Frau, Familie aus Sicht der Rechten:
Im Reich der totalen Unfreiheit
Wie immer, folgt das Negative, die Feindschaft – in dem Fall gegen Feminismus, LGBTQ etc. – aus dem Positiven, aus dem Wert „Familie“, den nicht nur die Rechten verehren. Es ist das Verdienst der FPÖ, den Standpunkt detailliert dargelegt zu haben; daher als Einstieg deren Weltbild:
„Die Familie als Gemeinschaft von Mann und Frau mit gemeinsamen Kindern ist die natürliche Keimzelle und Klammer für eine funktionierende Gesellschaft … “ (Handbuch freiheitlicher Politik. Ein Leitfaden für Führungsfunktionäre und Mandatsträger der Freiheitlichen Partei Österreichs. Wien 4. Auflage/2013, S. 131; wird inzwischen als „vergriffen“ angezeigt:
https://www.fbi-politikschule.at/details/artikel/handbuch-freiheitlicher-politik-2/)
Bei der Familie geht es aus freiheitlicher Sicht definitiv nicht darum, dass sich die Beteiligten ihr Zusammensein nach ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten einrichten. Da kann von „Freiheit“ keine Rede sein. Denn in der Familie ergänzen sich erstens die Natur, in dem Fall die biologische Möglichkeit in Sachen Fortpflanzung, mit zweitens der auf Liebe gegründeten Bereitschaft der Beteiligten, keineswegs „natürliche“, sondern staatlich definierte Pflichten füreinander zu übernehmen, und das alles fügt sich drittens zu beachtlichen Diensten an der funktionierenden Gesellschaft: Die freiheitliche Familie leistet die Aufzucht der Kinder – im Plural – und die Sorge um die Alten. Da sieht die FPÖ das unpolitische Wirken der Natur in Kombination mit der persönlichen Zuneigung am Werk, vor und jenseits der doch beachtlichen Ansprüche, die das Familienrecht an Ehen und Lebensgemeinschaften stellt. Die Erfüllung von Aufgaben im Fortpflanzungsdienst, als Sozialisationsinstanz und als psychosoziale Betreuungseinrichtung soll die arteigene und genuin menschliche Entfaltung von Biologie und Liebe darstellen: Eine „natürliche Keimzelle“ für die „funktionierende Gesellschaft“. Wie immer gilt: Wenn da tatsächlich die „Natur“ als bestimmende Instanz am Werk wäre, dann wäre ein Zuwiderhandeln unmöglich, und das Bemühen der Partei um die rechte Auffassung von der ordentlichen Familie überflüssig. Die leichte Absurdität zieht sich durch das Weltbild:
„Wir Freiheitliche sind der Überzeugung, dass die biologische Determiniertheit von Mann und Frau anzuerkennen ist, grundsätzlich positiv ist und daher durch abstruse Theorien nicht geändert werden kann oder soll. Wir Freiheitliche sind daher ebenso der Überzeugung, dass weder Mutter- noch Vatersein ein Konstrukt oder eine gesellschaftlich oktroyierte Inszenierung sein kann. Man übernimmt nicht eine Mutterrolle, sondern ist Mutter. Man übernimmt nicht eine Vaterrolle, sondern ist Vater. Geschlechteridentität sei, so die Hüter des Gender Mainstreamings, keine biologische Tatsache, sondern das Ergebnis eines aufgezwungenen Lernprogramms. Schon 1949 hat Simone de Beauvoir dogmatisch festgehalten: ‘Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.’“
(Handbuch S. 135)
Noch einmal der Hinweis, dass eine „biologische“ – im Sinn einer naturgesetzlichen – „Determiniertheit“, weder positiv noch negativ zu bewerten ist. Bei wirklichen naturbedingten Phänomenen wäre so eine Beurteilung nur lächerlich. Wenn es sich bei Geschlechterdifferenzen tatsächlich um „biologische Tatsachen“ handelt, können diese durch „abstruse Theorien“ gar nicht tangiert werden. Aber konfrontiert mit der Vorstellung, bei der Elternschaft handle es sich um „Rollen“, die man übernehmen kann oder auch nicht, um willentliche Entscheidungen, die so oder anders ausfallen können – da muss die Partei dogmatisch dagegen- und festhalten, dass Frauen nun einmal Frauen und darum geborene Mütter sind; und Männer sind Väter, dito. Der deterministische „Schluss“ von der biologischen Ausstattung von Frau und Mann als Naturwesen – Fortpflanzungsorgane! – auf ihre Rolle in der Gesellschaft, nämlich die Berufung zu Eltern, ist sichtlich kein naturwissenschaftlicher. Da werden zwei sehr verschiedene Welten miteinander verknüpft: eine favorisierte sittliche Pflicht wird aus einer „biologischen Tatsache“ herausgeleiert. Mit ihrer Biologie-Nachhilfe möchten die Freiheitlichen Mann und Frau andere, „aufgezwungene Lernprogramme“ ersparen und ihnen die Freiheit schenken, das staatliche Interesse an den Funktionen der Geschlechter als unabweisbaren Auftrag der Natur zu interpretieren.
Kritik an Geschlechterrollen: Ein Angriff auf das Volk
Nachdem sich im Verhältnis der Geschlechter in den letzten Jahrzehnten einiges geändert hat, auch Homosexualität z.B. nicht mehr kriminalisiert wird oder im gesellschaftlichen Mainstream als behandlungsbedürftige Krankheit gilt, ist die Legende von der biologischen Determiniertheit so zu lesen: Hier besteht eine Partei kategorisch darauf, dass ihr grundsätzliches Bild von der Familie als eine Form von Staatsdienst weder diskussions- noch reform- noch kompromissfähig ist. Abweichungen vom Parteibild in Sachen Familie und Frau sind nicht anderen Bedürfnissen geschuldet, womöglich im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft, in der jeder nach seiner Fasson selig werden darf, wenigstens im Privatleben – sondern es sind denaturierte Abweichungen, sind Entartungen. Denn gerade auf diesem Feld tobt der Kampf um die Existenz des Volkes, das durch die unbefriedigenden Wurfquoten der österreichischen Wurzel-Frau in Kombination mit Migration bedroht ist, was zusammengenommen aus der Sicht der Rechten in den „großen Austausch“ mündet. Wer die Determiniertheit der Frau in Frage stellt, leistet der Zerstörung der familiären „Keimzelle“ Vorschub, und greift damit die Zukunft der Nation an, also diese selbst. Insofern bringt eine irrtümlicherweise als etwas schräg bis extremistisch verharmloste Position aus der FPÖ das Parteiverständnis haargenau auf den Punkt: Feministische Kritik am Frauenbild der Partei (FPÖ-Diktion: der „Gender-Wahnsinn“) ist gleich Zerstörung der Familie ist gleich Zerstörung der Nation, also quasi eine Kriegshandlung:
„Gender Mainstreaming zerstöre Familien und sei nichts anderes als die Fortsetzung des Zweiten Weltkrieges mit effektiveren Waffen. Die Chefin der FPÖ Amstetten, Brigitte Kashofer, formulierte bereits 2011, auf der Informationsseite des III. Nationalratspräsidenten (!) in einem Kommentar, diese scharfen Worte.“ (Kurier 18.7.2012)
[Die kernige Frau Kashofer ist angeblich nicht mehr in der FPÖ – warum bloß? Im Jahr 2019, in der Schlussphase der türkis-blauen Koalition wurde Kashofer als Mitglied der Identitären geoutet: „AMSTETTEN. FP-Stadträtin Brigitte Kashofer soll laut eines Berichts des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) Mitglied der rechtsextremen Identitären sein. Kashofer ist nicht die einzige FP-Funktionärin, die in der Liste ‘ausgeforschter Mitglieder’ aufscheint. Auf Nachfrage zeigte sich die Stadträtin sehr wortkarg. Ob sie Mitglied bei den Identitären ist oder nicht, sei allein ihre Sache. Wie lange sie schon Mitglied ist, wisse sie nicht. Wie der ORF berichtete, sei laut FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker mit den Betroffenen ein klärendes Gespräch geführt worden. Über Parteiausschlüsse sei jedoch kein Wort gefallen.“
(https://www.tips.at/nachrichten/amstetten/wirtschaft-politik/463388-fp-stadtraetin-brigitte-kashofer-angeblich-mitglied-der-identitaeren) Damals haben sich freiheitliche Distanzierungsweltmeister ab und an, auf Druck von Kanzler Kurz, von den Identitären „distanziert“. Damit war es anschließend vorbei – oder auch nicht: „FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz will sich wieder den rechtsextremen Identitären annähern. Man habe während der Regierungszeit den Fehler gemacht zu glauben, ‘wir müssen in ein Rückzugsgefecht gehen und uns auf Zuruf von Sebastian Kurz distanzieren’, sagte er in einem Interview mit dem einschlägigen Magazin ‘Info Direkt’, und: ‘Mit dieser Distanziererei ist es jetzt aber definitiv vorbei.’“ (Standard 30.11.2020) Dem war aber dann doch nicht ganz so, denn Schnedlitz hat sich von dieser Distanzierung von den vorherigen Distanzierungen kurz darauf wieder – distanziert. (https://www.derstandard.at/story/2000122101943/generalsekretaer-schnedlitz-distanzierung-der-fpoe-von-identitaeren-definitiv-vorbei)]
Vom Überlebenskampf des Volkes stammt die Vehemenz, mit der die FPÖ die Verschwörung des „Gender Mainstreaming“ aufzudecken hat, eine Verschwörung, zu deren Denunziation als „hidden agenda“ sogar der gute alte „Marxismus-Leninismus“ exhumiert wird. Der wird im „Gender Mainstreaming“ als Maxime der EU nach dem Amsterdamer Vertrag von 1999 entdeckt: „Als offizielles Ziel werden die Gleichstellung der Geschlechter und die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit genannt“ – also Ziele, denen sich die FPÖ offiziell auch nicht mehr verweigern mag. Aber inoffiziell und hinter den Kulissen! Da geht die Post ab, und die Partei muss aufdecken, dass da der pure Wille zur „Zerstörung“ der menschlichen „Identitäten“ am Werk ist. Diese Identitäten sind nämlich durch die Aufgaben definiert, die von den Individuen zu erledigen sind, als Eltern und als Österreicher – „gesamtgesellschaftlich, kulturell und individuellgeschlechtlich“ –, womit sich mit diesen bedrohten „Identitäten“ auch deren nationale Pflichterfüllung auflöst, in Richtung eines „Neuen“, wurzel- und bindungslosen Menschen, der nur negativ bestimmt ist:
„‘Gender Mainstreaming’ soll im ‘Top-Down-Prinzip’ durchgepeitscht werden. Das bedeutet, dass auf allen staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen alle Entscheidungen einer von der Spitze vorgegebenen Maxime unterworfen werden und einem gänzlich undemokratischen Vorgehen unterliegen. Diese Strategie findet ihren Ursprung im Wesen der marxistisch-leninistischen Kaderpartei, in der die ‘revolutionäre Avantgarde’ (Lenin) die Struktur für den Klassenkampf – hier den Geschlechterkampf – der ‘unbedarften Masse’ vorgibt. Was der Marxismus-Leninismus als Konspiration versteht – also seinen ‘historischen Auftrag’ zu verschleiern, um verdeckt an das ideologische Ziel zu geraten –, betreiben die ‘TheoretikerInnen’ des ‘Gender Mainstreaming’ als ‘hidden agenda’. So soll schlussendlich die Zerstörung der Identitäten – sowohl in gesamtgesellschaftlicher, kultureller Hinsicht als auch auf individuellgeschlechtlicher Ebene – erreicht werden. Das Ziel von ‘Gender Mainstreaming’ ist nichts anderes als die Schaffung des ‘Neuen Menschen’, das sich bereits Marxisten-Leninisten auf die Fahnen geheftet hatten.“ (Handbuch S. 135f.)
Schon an der Durchsetzung einer Maxime von oben nach unten entdeckt die FPÖ in diesem Fall das „Wesen“ des Marxismus-Leninismus, jedenfalls den Feind. Ausgerechnet Politiker, die „Führung“ ganz selbstverständlich als ihre Aufgabe und den Titel „Führungsfigur“ als Riesenkompliment ansehen, die autoritative „Vorgaben“ von der „Spitze“ normalerweise als souveränes und keineswegs undemokratisches Staatshandeln schätzen, die entdecken hier an der Durchsetzung „von oben“ – im politischen Alltag bekanntlich ein ganz gewöhnliches Phänomen – ein politisches Verbrechen! Dann „verschleiern“ ausgerechnet die Theoretikerinnen des „Gender Mainstreaming“ auch noch das, was sie unermüdlich ganz offen formulieren, sodass sogar die freiheitliche Partei es entdecken und sich darüber regelmäßig entsetzen muss!
Denn die FPÖ besteht darauf, dass die österreichische Familie den Nachwuchs nicht einfach großzieht und in die hiesige Gesellschaft einführt, sondern ihm dabei ganz selbstverständlich eine ziemlich unverwüstliche, beliebig strapazierbare nationale Einstellung verpasst, ihn durch ihre Erziehung zuverlässig österreichisch-nationalistisch indoktriniert, also zu bedingungslosen Patrioten heranbildet. Wieder verleiht die FPÖ ihrem Haupt- und Grunddogma Ausdruck, dass von Freiheit nicht die Rede sein kann und darf, weil die Stellung zum Staat wieder mal das Resultat einer „Determiniertheit“ sein soll, in der sich die freiheitliche Biologie und die nationale Kultur vortrefflich ergänzen: Wer – meist von den Eltern – eine Sprache lernt, der beherrscht nicht diese und kann sich ordentlich ausdrücken und verständigen, sondern die Sprache beherrscht umgekehrt ihn, sie legt ihn fest, determiniert ihn zum zwangsläufigen Mitmacher einer nationalen „Gemeinschaft“. Das schlichte Lernen der Sprache soll den Kindern nämlich einen überwältigenden Stempel (im Jargon: eine „Prägung“ – „Prägung nennt man in der Verhaltensbiologie eine irreversible Form des Lernens“, wikipedia) verpassen und sie zuverlässig und allzeit bereit der Nation „zuordnen“; deswegen ist in diesem Fall das „Durchpeitschen“ dieser Prägung auf allen Ebenen der Erziehung im „Top-Down-Prinzip“ das einzig Senkrechte. Die „Muttersprache“ heißt eben so, weil sie viel mehr beinhaltet als bloße Sprachkenntnisse, die man ja auch anderweitig erwerben und beliebig benutzen kann:
„Die Muttersprache ist das Ergebnis einer biographischen und familiären Prägung. Sie ist daher die Sprache, in der man denkt, fühlt und träumt. Die jeweilige Muttersprache ist daher als Trägerin des kulturellen Ausdrucks das bestimmende Kriterium der Zuordnung zu einer größeren Kulturgemeinschaft. Sprache ist nicht nur ein Verständigungsmittel, sondern auch ein Hort der geistigen Überlieferung – ein geistiger und ideeller Schatz, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. … Deshalb muss in allen Bildungseinrichtungen, beginnend im Elternhaus über den Kindergarten und die Schulen bis hin zu den Universitäten, der Bewahrung und Förderung der deutschen Sprache eine herausragende Rolle eingeräumt werden.“ (Handbuch S. 259)
Hier soll die doppelte Bedeutung von „deutsch“ ausgeschlachtet werden. Wer einerseits deutsch denkt, bedient sich der deutschen Sprache als Mittel seiner Urteile; damit steht nicht fest, zu welchen kritischen oder affirmativen Urteilen über Deutschland oder Österreich er gelangt. Wer andererseits deutsch denkt und womöglich „fühlt und träumt“, betrachtet die Welt von einem deutschen nationalen Standpunkt aus, er kennt deutsche Interessen und Rechte, und beurteilt den Rest der Welt nach deren Geltung. Nach Meinung der FPÖ fällt beides zusammen – eine Sprache zu beherrschen bedeutet, als Teil einer nationalen Gemeinschaft zugeordnet zu sein und zwangsläufig einen nationalen Standpunkt einzunehmen: Das ist die – „Muttersprache“.