Dieses Buch hat mich voll erwischt!
Die deutsche Schriftstellerin Herma Kennel hat vier Jahre zu einem Buch recherchiert und daran geschrieben. Das ist nichts ungewöhnliches, aber, so meine ich, das Ergebnis dieser Arbeit ist sehr wohl außergewöhnlich. In BergersDorf beschreibt sie die Verstrickungen der deutschsprachigen Bevölkerung in der deutschen Sprachinsel rund um Iglau (tschechisch Jihlava) in er Zeit der deutschen Besetzung (1939-1945). Und sie beschreibt die Racheakte der tschechoslowakischen Bevölkerung an den „Deutschen“. Dabei bleibt sie immer ganz dicht am recherchiertem historischen Material. Mit bemerkenswerter Akribie und wohl auch sehr viel Fleiß sprach sie mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, forschte in Tschechischen und Deutschen Archiven und hob Dokumente aus. Das Staatsarchiv Prag sandte ihr hunderte Kopien über Vorgänge in Böhmen und Mähren aus der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs und im Mährischen Landesarchiv Brünn konnte sie wichtige Dokumente zu Bergersdorf einsehen. Auf Grundlage dieser Materialfülle verfasste sie einen überaus dichten Tatsachenroman der stehts sehr nahe an den historischen Ereignissen bleibt. Diese genauen Recherchen veranlasste die tschechische Kriminalpolizeit sogar zu Ermittlungen und zum Aufspüren eines Massengrabes, dass 2010 ausgehoben wurde. Die DNA-Analysen, 7 Jahre nach erscheinen des Buches, bestätigten die Angaben die Kennel in ihrem Roman machte. 2011 erschien das Buch dann auch in tschechischer Übersetzung.
Als nach dem Münchner Abkommen, 1938, das Sudetenland von Deutschland besetzt wurde, waren die Deutschen in Iglau enttäuscht, dass nicht auch sie von Hitler „heim ins Reich“ geholt wurden. Dies wurde aber durch die Besetzung der sog. Rest-Tschechei, im Mai 1939, nachgeholt.
Hier setzt der Roman von Herma Kennel ein. Die deutschsprachige Bevölkerung in und um Iglau begreift diese Annexion als Befreiung. Auch im 12 km von Iglau entfernten Bergersdorf in dem der Bauer Wenzel Hondl seit 20 Jahren Bürgermeister und ein anerkannte und geachteter Mann ist.
Als der SS-Obergruppenführer Gottlob Berger auf das Dorf – dass wie er heißt – aufmerksam wird, verleiht er dem Dorf den Ehrentitel „SS-Dorf“. Und tatsächlich treten ungewöhnlich viele Burschen und Männer aus Bergersdorf der SS bei. So wird aus dem landwirtschaftlichen Musterdorf Bergersdorf – Bergers Dorf. Also das Patendorf von SS-Obergruppenführer Gottlob Berger. Eine Ehre, die die deutschen Bewohner nach der Kapitulation Deutschland im Mai 1945 mit Mord, Folter und Vertreibung bezahlen. Bürgermeister Wenzel Hondl wird gefoltert und stirbt am 17. Mai 1945 an den Folgen dieser Folter. Im nahegelegenen Dobrenz wurden am 19. Mai gegen Mitternacht mehr als ein Dutzend eingesperrter deutscher Männer von betrunkenen Tschechen zu einer Wiese unweit des Dorfes getrieben. Bei strömendem Regen mussten die Deutschen ihre Gräber ausheben, danach schlugen die Betrunkenen mit Schaufeln, Spitzhacken und Spaten auf die Wehrlosen ein. Die Getöteten wurden in aller Eile in die flachen Gruben geworfen und mit Erde bedeckt. Danach machten sich die Täter zum Wirtshaus auf. Einer der Mörder prahlte, er habe den größten Bauern mit einem einzigen Schlag zerteilt. Im Dorf wussten es alle, verschwiegen jedoch ihr Wissen –jahrzehntelang. Dieses Verbrechen wurde – angeregt durch diesen Roman – 2010 von der tschechischen Kriminalpolizei unter der Leitung des Chefermittlers Michal Laška nochmals aufgerollt. Die vergrabenen Leichen wurden exhumiert und 2012 nochmals bestattet.
Das wirklich Bemerkenswerte an dem Buch ist, dass Herma Kennel einen Teil ihrer Familiengeschichte thematisiert. Bürgermeister Hondl war der Großvater ihres Ehemanns und Kennel wurde auch von ihrer Schwiegermutter aufgefordert sich mit den Geschehnissen in Bergersdorf zu befassen. Dennoch wahrt Kennel einen fast wissenschaftlichen Abstand zu den Geschehnissen – und wurde nach Erscheinen des Buches dafür auch von ehemaligen SS-Angehörigen gescholten. Ein weiterer bemerkenswerter Umstand ist, dass dieses Buch in eine Zeit fällt in der sich die tschechische Öffentlichkeit immer mehr für die „historische Wahrheit“ der Vertreibungen deutschsprachiger Landsleute interessiert. Es kommt also zur rechten Zeit. Mehr noch. 2003 erschienen hat das Buch dieses Interesse schon vorweg genommen.
Dringende Leseempfehlung für Menschen die sich für eine die Verheerungen der deutschen Besetzung und den daraus resultierenden Folgen interessieren. Keine leichte Kost – das Buch liegt einem lange wie ein Ziegelstein im Magen. In seiner zurückhaltenden Art hat mich dieses Buch mit voller Wucht erwischt hat mich umgehauen!
Herma Kennel: BergersDorf, 2003, Vitalis-Verlag, Prag