„Die Wahrheit stirbt“: Das Völkerrecht im Krieg

12.04.2022

„Die Wahrheit stirbt zuerst“
Das Völkerrecht im Krieg

Die populäre Vorstellung, dass das Völkerrecht den totalen Gegensatz zum Krieg beinhalte, dass der Krieg wenigstens vom Völkerrecht generell geächtet sei, auch wenn permanent irgendwo Krieg geführt wird – diese Vorstellung blamiert sich schon daran, dass das Kriegsrecht einen prominenten Teil des Völkerrechts bildet; und das betrifft sowohl das Recht zum Krieg, als auch das Recht im Krieg, an das sich also die kriegführenden Parteien halten mögen.

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg gingen die Kaiser der Verliererstaaten Österreich-Ungarn und Deutschland ins Exil. Der Krieg war bis damals das anerkannte Recht souveräner Staaten; die Kaiser, Fürsten und Herrschaften früherer Epochen verfügten aus eigener Machtvollkommenheit über ein unstrittiges „Recht zum Kriege“, das von keiner überstaatlichen Ermächtigung abhängig war, von keiner Zustimmung anderer Staaten – es war das genuine Merkmal ihrer Souveränität: „ … jeder Krieg, zu dem ein Souverän (bzw. ein souveräner Staat) sich entschloss, war rechtens. Dieses Prinzip galt bis zum Ende der Epoche des klassischen Völkerrechts in unserem“ – (gemeint: das 20.) – „Jahrhundert. Als der deutsche Kaiser nach verlorenem Weltkrieg im November 1918 in das neutrale Holland flüchtete, verlangten die Siegermächte seine Auslieferung, um ihn als Verursacher des ganzen Krieges zur Rechenschaft zu ziehen. Das kleine Holland wies den Antrag der Großmächte zurück, ohne die Kriegsschuld des Kaisers geprüft zu haben. Die Begründung lag in dem damals noch geltenden Völkerrecht, nach dem kein Souverän wegen des Schreitens zum Kriege zur Rechenschaft gezogen werden konnte.“ (Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.65) Allerdings waren die Verlierer auch dem Recht der Sieger ausgesetzt: Wer im vorigen Jahrhundert klassische Bildung genießen durfte, erinnert sich vielleicht an „vae victis“ – „wehe den Besiegten.“

Das moderne Völkerrecht ist ein Kriegsergebnis. Seither gibt es nicht nur, wie immer schon, das Recht der Sieger, sondern auch den völkerrechtlich geahndeten verbrecherischen Angriffskrieg. Nach dem Ersten Weltkrieg („Völkerbund“), und erst recht in seiner aktuellen Satzung als „UN-Charta“ nach dem Zweiten Weltkrieg haben es die Siegermächte unternommen, eine Ordnung der ganzen Welt nach ihren Bedürfnissen zu kodifizieren. Die Ordnung beginnt mit einer Absage an den Krieg – „Wir, die Völker der Vereinten Nationen, … fest entschlossen, künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat…“. Diese Absage unterstellt allerdings im Fortgang ganz selbstverständlich, dass souveräne Staaten weiterhin ihre Gründe haben und finden werden, gegeneinander vorzugehen, und antwortet auf diese Gewissheit mit dem Beschluss, die Unterzeichner würden ihre Friedenssehnsucht praktizieren, indem sie „ihre Kräfte vereinen und Grundsätze annehmen und Verfahren einführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur mehr im gemeinsamen Interesse angewendet wird.“ (Präambel der Satzung der Vereinten Nationen)

Die Präambel reflektiert also einerseits die Zufriedenheit der damaligen Siegermächte, dass nunmehr mit dem Kriegsergebnis alle wesentlichen Gewaltfragen geklärt seien, sie ist sich andererseits sicher, dass allseitige Zufriedenheit mit diesem Kriegsergebnis nicht einkehren wird, und dekretiert die Erlaubnis, Waffengewalt nur mehr im gemeinsamen Interesse zur Erhaltung dieser Ordnung anzuwenden – womit allerdings diese propagierte Gemeinsamkeit und das gemeinsame Interesse schon dementiert ist. Immerhin: Ein Staat, der Krieg führen will, müsste sich also die regelrechte Erlaubnis der Völkerfamilie einholen, womit die einleitende Absage an den Krieg in ein formelles, ordentliches Genehmigungsverfahren hin zum Krieg übergeführt wurde, mit dem UN-Sicherheitsrat als der letztlich zuständigen Instanz für den rechtlich abgesegneten Krieg im Interesse aller. Insofern ist auch dem Völkerrecht völlig klar, dass es Gewalt für sein Regime braucht. So einen völkerrechtlich einwandfreien Krieg hat es tatsächlich mal gegeben, der Korea-Krieg war nicht nur der Stellvertreterkrieg der beiden Koreas bzw. der Krieg der USA gegen China, sondern ein regelrechter Krieg der UNO, weil die Sowjetunion damals an der entscheidenden Abstimmung nicht teilgenommen hatte. Ansonsten ist dieser Krieg von den nicht so ordentlichen Kriegen ohne UN-Mandat nicht zu unterscheiden. Neben diesem Genehmigungsverfahren und durchaus unterschieden davon kennt die Charta nämlich „im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen … das naturgegebene(!) Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“. (Art. 51) „Naturgegeben“ – also vor jeder politisch-rechtlichen Normierung des Krieges.

Wie so ein möglicher Konflikt zwischen Selbstverteidigung und Sicherheitsrat auch ausgehen mag: Als praktisches Recht ist diese Abteilung Völkerrecht nichts anderes als der Befund der wichtigen Nationen, wieweit ein UNO-Mandat für Krieg ihren weltpolitischen Interessen entspricht. Die Mächte im Sicherheitsrat sind es, die durch den Einsatz ihrer Gewalt im Dienste der Vereinten Nationen bestimmen, wann, wo, gegen, und für wen welcher Artikel der UN-Charta geltend zu machen ist, was also in Sachen Krieg rechtens ist. Indem die Charta die maßgeblichen Weltmächte – das Kräfteverhältnis entspricht dem Zeitpunkt der Gründung, dazu kam China – zu ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat ernennt und mit einem Vetorecht ausstattet, erteilt es ihnen die Kompetenz, die Rechtslage verbindlich zu interpretieren. Völkerrecht zum Krieg ist das, worauf diese Nationen sich einigen, nichts weiter. Und falls sie sich nicht einigen? Das amerikanische Verständnis von Selbstverteidigung vs. UN-Sicherheitsrat sieht etwa so aus:

W. Slocombe, Staatssekretär im US-Verteidigungsministerium, 1999: „Die Vereinigten Staaten stimmen voll und ganz überein, dass es von elementarer Bedeutung ist, eine angemessene rechtliche Grundlage für jeden Einsatz militärischer Gewalt zu haben. Ferner stimmen wir zu, dass es aus rechtlichen und politischen Gründen oft wünschenswert ist, den Einsatz von Gewalt von den Vereinten Nationen billigen zu lassen. Das steht außer Zweifel. In der Praxis haben wir uns an die UNO gewandt und deren Zustimmung erhalten. Im Golfkrieg 1991 hatte die Zustimmung die drastischste und weitreichendste Form. Im jüngsten Fall des Kosovo war die Zustimmung völlig klar, jedoch weniger direkt und weitreichend. Wir bestreiten nicht, dass eine Vollmacht der UNO nützlich oder wünschenswert ist. Tatsache ist jedoch, dass die UN-Charta Artikel 51 enthält, der das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung anerkennt, und diese Definition ist unabhängig vom UN-Sicherheitsrat und rechtlich separat. Unseres Erachtens beinhalten Artikel 51 und das Völkerrecht im Allgemeinen, dass Staaten gemeinsam handeln dürfen, wenn ihre Sicherheit bedroht ist, und nicht erst abwarten müssen, bis es zu einer Invasion kommt. Im Falle des Kosovo bestand die sehr reale Gefahr eines Ausuferns des Konflikts … wenn nicht gehandelt worden wäre. Eine solche Instabilität in der Region kann Stabilität und Sicherheit bedrohen, und Konflikte können auf NATO-Mitglieder übergreifen.“ Soweit also das Recht der USA auf Selbstverteidigung, sicher wünschenswert mit Zustimmung des Sicherheitsrats: Dessen behauptete „drastische Zustimmung“ zum Irak-Krieg 1991 erfolgt hier in der Manier eines Winkeladvokaten; der US-Staatssekretär interpretiert die amerikanische Rechtsauffassung einfach in die damalige abweichende Beschlusslage hinein. Dasselbe noch radikaler beim Kosovo: Dass Russland sich damals mehrfach „kategorisch auch gegen die bloße Androhung von Gewalt verwahrt“ hat (SZ, 1.2.1999), nimmt Amerika hier als „völlig klare“, leider aber etwas „weniger direkte“ und „weniger weitreichende“ Zustimmung – Moskau hätte diese Interpretation wahrscheinlich nur per Krieg „widerlegen“ können! Dieses Bedürfnis nach „rechtlicher Grundlage“ und nach „Billigung“ ist übrigens weit mehr als nur der Versuch, einen moralischen Bonus zu lukrieren – das ist der sehr politisch-praktische Anspruch auf durchaus materiell zu verstehende Unterstützung, dass sich der Rest der Welt also hinter den USA versammelt.

Was den aktuellen Krieg betrifft, beruft sich auch Russland auf dieses „naturgegebene“ Recht auf Selbstverteidigung, herausgefordert durch die Aufrüstung der Ukraine und deren Kriegskalkulationen, aber ohne sich die Zustimmung des Sicherheitsrates zu erschwindeln. Exemplarisch eine Variante von vielen, die von der hiesigen Lügenpresse mit der üblichen Verständnislosigkeit verschwiegen wurde: „Niemand sollte an unserer Entschlossenheit zweifeln, unsere Sicherheit zu verteidigen. Alles hat seine Grenzen. Wenn unsere Partner weiterhin militärisch-strategische Realitäten konstruieren, die die Existenz unseres Landes gefährden, werden wir gezwungen sein, ähnliche Schwachstellen für sie zu schaffen. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es für uns keinen Rückzug mehr gibt. Die militärische Erkundung der Ukraine durch die NATO-Mitgliedstaaten stellt für Russland eine existentielle Bedrohung dar.“ (Anatoli Antonow, Russlands Botschafter in den Vereinigten Staaten. Foreign Policy, 30.12.21)

Und wo in Sachen Selbstverteidigung „Recht gegen Recht steht, entscheidet die Gewalt“. Dieses Zitat ist zwar aus dem Zusammenhang gerissen, es passt aber vortrefflich auch auf das Völkerrecht. Völkerrecht, das ist nicht die Alternative zum Recht des Stärkeren oder zum Faustrecht, es ist dessen Resultat; die zum internationalen System ausgebaute normative Macht des Faktischen. Die Gewalt schafft eine politische Lage und damit eine neue Rechtslage, auch dafür sind die Kriege am Balkan in den 90er Jahren und speziell der Krieg gegen Serbien ein Lehrstück. Worum es heute letztlich geht, kommt in einem Kommentar des polnischen Außenministers im Klartext zum Ausdruck, zustimmend zitiert im „profil“ 13/2022, Überschrift „Warum der Westen siegen muss.“ Ja, warum denn? „Wenn Russland im Krieg gegen die Ukraine als Sieger hervorgeht, wird die Anwendung von Gewalt ein neuer Standard in der internationalen Politik.“ Nun, die Anwendung von Gewalt durch die USA und ihre Spießgesellen ist längst der anerkannte Standard in der internationalen Politik. In solchen Formulierungen wird unverblümt postuliert, dass es nicht um Gewaltfreiheit, sondern um das Monopol des Westens auf die Anwendung von Gewalt geht. [Ich habe mich in einem früheren Podcast über die weit verbreitete „selektive Amnesie“ der „Alzheimer-Kandidaten“ in den Medien lustig gemacht, wenn die sich kaum darüber einkriegen, dass „zum ersten mal“ oder wenigstens „seit 1945“ oder wenigstens „in Europa“ wieder Krieg geführt wird, was sie höchstpersönlich für völlig unmöglich gehalten hätten, wie sie versichern. Nun, es handelt sich natürlich nicht um Gedächtnisschwund. Diesen Schmierfinken ist vielmehr eine Unterscheidung zur Gewohnheit geworden: Krieg, das ist eine Störung der vom Westen nach seinen Bedürfnissen definierten und garantierten internationalen Ordnung, ist nur von Störenfrieden zu verantworten – die westlichen Kriege hingegen, ich erspare mir eine Aufzählung, die dienen ebendieser westlichen Weltordnung oder Weltherrschaft, es sind also keine Kriege in diesem Sinn, keine Störungen, sondern militante Ordnungsmaßnahmen, einem innerstaatlichen Gewaltmonopol vergleichbar. Im staatlichen Innenleben darf Gewalt bekanntlich auch „kein Mittel der politischen Auseinandersetzung“ sein, weil die Gewalt beim Staat monopolisiert zu sein hat. Vielleicht bietet sich für die westlichen Kriege eine Sprachregelung analog der russischen an, von wegen „militärische Spezialoperation“, eventuell auch „Friedensschaffung“ oder „Konfliktlösung“ oder „Rettungsmission“ oder so … ]

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Soviel zum Völkerrecht auf Krieg, was das Recht im Krieg betrifft,
ein Kommentar aus der Wiener Zeitung vom 02. März 2022:

„Das Kriegsrecht lässt deutlich mehr zu, als man sich als Zivilist vorstellen kann. So ist etwa ein Angriff auf militärische Ziele in Städten, bei dem Zivilisten ums Leben kommen, nicht automatisch auch eine Völkerrechtsverletzung. Sich als Zivilist zu bewaffnen und ins Kriegsgeschehen einzugreifen, ist dagegen verboten, wie Karl Edlinger, pensionierter Brigadier und Rechtsberater im österreichischen Bundesheer, im Gespräch mit der APA erläutert. „Wer das tut, verliert sofort seinen Schutz als Zivilist und darf angegriffen werden und in letzter Konsequenz ohne Vorwarnung getötet zu werden.“ Das ist im Krieg in der Ukraine deswegen von Bedeutung, weil dort die Regierung die Zivilbevölkerung explizit zum bewaffneten Widerstand aufgerufen und 25.000 Schusswaffen sowie zehn Millionen Patronen ausgegeben hat. … Das bedeutet, dass Soldaten (Angehörige der Streitkräfte), die gegnerische Soldaten bekämpfen, eine rechtmäßige Kriegshandlung begehen und straffrei bleiben, Zivilisten jedoch für die unmittelbare Teilnahme an Kampfhandlungen strafrechtlich belangt werden können.“ Das kann das Kriegsrecht also nicht leiden: Zuerst Zivilisten bewaffnen, und sich dann darüber beschweren, dass Zivilisten dadurch zu Zielscheiben werden. Da kündigen sich jedenfalls delikate juristische Auseinandersetzungen an. Auch der juristische Unterschied zwischen erlaubten und verbotenen Waffen ist nicht so schlicht, wie es die Presse manchmal simplifiziert glauben machen will: „Es komme immer darauf an, welcher Staat, welche Abkommen ratifiziert haben. Beispielsweise haben Länder, die über Streubomben verfügen und diese gegebenenfalls auch einsetzen wollen, „eine Ächtung dieser Waffensysteme in der Regel nicht unterschrieben“, so Edlinger. So haben sechs NATO-Staaten, aber auch sieben Mitgliedsstaaten der Europäischen Union das Abkommen über das Verbot von Streumunition bisher nicht ratifiziert. „Russland und die Ukraine haben dieses Abkommen ebenfalls nicht unterzeichnet und der Einsatz dieser Waffensysteme wäre somit zulässig.““ (ebd.) Das wäre auch eigenartig: Staaten beschaffen sich Waffen, und „verbieten“ sich dann deren Einsatz; Staaten, die sich das Recht auf Krieg zusprechen, sollten sich im Zuge der Durchführung unsachliche militärische Einschränkungen auferlegen?!

[Nebenbei, Edlinger über 1999: „Es ist nicht ungewöhnlich, dass militärische Angriffe auch ohne völkerrechtliche Grundlage durchgeführt werden, sagt Edlinger und erinnert etwa an den NATO Angriff auf Belgrad 1999. „Damals lag weder ein bewaffneter Angriff Jugoslawiens auf die NATO vor, noch gab es ein entsprechendes Mandat des Sicherheitsrats (dieser Angriff war somit auch ein eindeutiger Völkerrechtsbruch).““ ebd.]

Noch eine Bemerkung zur Sache: Bis vor kurzem war eine sehr charakteristische Sprachregelung in Umlauf, nach der die NATO zwar nach Osten vorrücke, aber das sei keine Bedrohung für niemanden, und für Russland schon gar nicht. Putin leide vielmehr an Verfolgungswahn. Nun, seit ein paar Wochen ist das anders. Die NATO ist ein Kriegsbündnis gegen Russland, und das ist – Überraschung! – auch genau so gemeint. Die Waffenlieferungen, die Sanktionen, die moralische und diplomatische Offensive – das alles bestätigt im Nachhinein den russischen Befund über die Bedrohung durch die NATO. Denn nichts musste seit dem Angriff auf die Ukraine wirklich neu erfunden werden, nicht das NATO-Bündnis, nicht die Waffen, nicht die Stützpunkte, nicht die Militärdoktrin – all das wurde eben radikalisiert und eskaliert, alles war längst vorbereitet. Niemand von den zuständigen westlichen Kriegsherren und -damen war überrascht, es ist als hätten sie mit einer gewissen Begeisterung die Gelegenheit ergriffen, auf die sie die längste Zeit gewartet hatten.

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die-deutschen-wollen-den-krieg-in-der-ukraine-gewinnen:

„Ich bin Ukrainerin – und kann kein Blau-Gelb mehr sehen

Es ist für mich sehr schwierig, mit deutschen Bekannten über den Krieg zu reden. Und doch sprechen mich fast alle darauf an – aus einer ziemlich einheitlichen Haltung. Menschen, die bis vor Kurzem nicht wussten, welcher Fluss durch Kiew fließt oder wo das Asowsche Meer liegt, versuchen, mich über mein Land zu belehren. Und wenn ich sage, dass der Krieg – der sofort aufhören muss – auch eine Vorgeschichte hat, ernte ich Erstaunen und Kopfschütteln: Ist das nicht Putin-Propaganda? …

Doch erst einmal ist offener Krieg. Wladimir Putin hat ihn begonnen. Für seinen Verlauf hat aber auch die ukrainische Seite eine Verantwortung, etwa für die Tragödie von Mariupol. Die Großstadt an der Küste ist „strategisch wichtig“. Bewohnt wird sie überwiegend von Russen, denen Kiew nicht traut. Deshalb wurde hier nach 2014 das Asow-Regiment stationiert, die rechtsradikale Folgeorganisation des militanten Flügels vom „Euromaidan“ ist ja jetzt Teil der Armee. Trotzdem scheint Kiew die Stadt kaum halten zu können. … Doch kurz darauf hieß es, Mariupol werde keinesfalls übergeben. Die Menschen aber wurden nicht gefragt, ob ihre Stadt einen Märtyrer-Endkampf führen soll. Wo seit 2014 das Verhältnis zur Regierung recht kühl war, entstehen jetzt Bilder, mit denen ebendiese im Westen heiße Emotionen mobilisiert. …

Aber auch hierzulande zeigen die Medien ein Zerrbild. Ihnen zufolge steht die ganze Ukraine Gewehr bei Fuß gegen den – wahrscheinlich verrückten – Aggressor. Wer von Spaltung redet, bediene nur das „Putin-Narrativ“! Warum hat die Regierung dann jetzt „pro-russischen“ Parteien jede Betätigung verboten? … Nach meiner Wahrnehmung sehen viele im Osten die Katastrophe nach wie vor auch als bittere Konsequenz des „Euromaidan“. Als 2014 mit offener Unterstützung fremder Mächte eine relativ fair gewählte Regierung gestürzt wurde, die dort ihre Basis hatte, roch es nach Krieg. … dieser Einschnitt hat ein gewaltsames Zerbrechen des Landes riskiert. Und dass damals in Kiew der harte Kern auf dem Platz bezahlt wurde, weiß in der Ukraine jeder. …

Finden Sie mich zynisch? Einem Kind des ukrainischen Ostens steht auch die Oblast Donezk vor Augen, die wie Luhansk und die Krim den Umsturz von 2014 nie anerkannt hat – und hart dafür bestraft wurde. … Acht Jahre hat er gedauert und weit mehr als zehntausend Menschen getötet. Immer wieder haben ukrainische Truppen dabei Zivilisten beschossen. …

Und wollen denn meine Mitmenschen wirklich, dass das Schießen jetzt aufhört? Wenn ich höre, wie man redet, wenn ich die Zeitungen sehe, bekomme ich ein anderes Gefühl: Der Krieg soll „gewonnen“ werden. Irgendwie auch von den Deutschen, endlich einmal – koste es fast, was es wolle. … Wenn Deutschland Blau-Gelb hisst, wenn man sich bei Unterlassung fast rechtfertigen muss, dann spüre ich in dieser „Solidarität“ auch einen Griff nach dem Land, das trotz allem mein Land ist und dem ich das Beste wünsche.“

Literatur:

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-deutschen-wollen-den-krieg-in-der-ukraine-gewinnen

https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/europa/2139489-Das-Kriegsrecht-erlaubt-mehr-als-moralisch-vorstellbar-ist.html

https://de.gegenstandpunkt.com/dossier/krieg-ukraine

https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/ukraine-den-zeiten-corona

https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/unsere-ukraine-einziger-grosser-fall-korruption

 

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