Die Türkei – Gespräch mit Max Zirngast, Teil 3

04.05.2020

Der Völkermord an den Armeniern, Nordzypern und der Konflikt in Syrien

Der Vorsatz, der zum Nachweis des Genozids nötig ist, könnte nachgewiesen werden. In den turbulenten Jahren um die Gründung der heutigen Türkei war der Massenmord an den Armeniern auch Gegenstand von Gerichtsverfahren, die Schuldigen – Cemal, Talaat und Enver – wurden genannt und sogar Atatürk hat ihn als Verbrechen und „Schandfleck“ der neueren Geschichte anerkannt.

Aber mit der Vertreibung und Ermordung der Armenier – und auch der Griechen – entstand die neue Elite der Türkei, es fand eine Art ursprüngliche Akkumulation statt. Auf Grundlage geraubten Grundes und Geldes entstand die türkische Bourgeoisie, und deswegen ist die Armenierfrage so heikel: Sie rührt an die ganze Eigentumsverteilung der heutigen Türkei.

Geringste Zugeständnisse in Sachen Genozid könnten deshalb heute die großen Vermögen der Türkei gefährden, weil sie Schadenersatzforderungen ermöglichen würden. Das Genozid als ein Tatbestand der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verjährt nämlich nie und kann immer vor jedem Gericht der Welt eingeklagt werden.
Grundstücke, Häuser in Istanbul stehen leer, weil sie keinen Eigentümer haben. Dadurch kann sie auch niemand kaufen.

Über Genozide im Allgemeinen, im Zuge der Kolonialisierung – die Türkei ist ja da beileibe keine Ausnahme. Gerade die alten Kolonialmächte, die mit Genoziden groß geworden sind, zeigen mit großem moralischen Zeigefinger auf die Türkei wegen der Armenier – wohl um von ihren eigenen Grundlagen abzulenken.

ZYPERN
Vorgeschichte des Zypern-Konflikts:

Die „Megali Idea“ (Große Idee) von Venizelos – die Wiedererrichtung des Byzantinischen Reiches und die damit verbundene Idee der „Enosis“, des stückweisen Anschlusses aller einst byzantinischen Gebiete – sie führte zur Vertreibung der Griechen aus Anatolien und bescherte Europa die erste Flüchtlingstragödie des 20. Jahrhunderts.

Dann kam das (von den USA und auch den europäischen Demokratien unterstützte) Obristen-Regime in Griechenland,
https://de.wikipedia.org/wiki/Griechische_Milit%C3%A4rdiktatur
das Zypern anschließen wollte und mit Unterstützung der USA den sowjetfreundlichen zypriotischen Präsidenten Makarios
https://de.wikipedia.org/wiki/Makarios_III.
stürzte, was zur Intervention der Türkei in Zypern (und in Folge auch zum Sturz der griechischen Militärdiktatur) führte.

Seither ist Zypern geteilt, und es ist bemerkenswert, daß die Teilung Zyperns kein Hindernis war für die Aufnahme Zyperns in die EU. (Die Finanzkrise Zyperns 2013 betraf nur die Griechisch-Zyprioten.)
Die Türkei betrachtet Nordzypern als ihr Staatsgebiet.
Die Universitäten Nordzyperns gehören zum türkischen Universitätssystem. (Es gibt mehr als 10 staatliche und private Universitäten in Nordzypern, in Lefkoşa (Nikosia Nord), Girne/Kerinia, Lefke und Famagusta.)
Die Teilung Zyperns wird mehr von außen aufrechterhalten als von innen gewollt.
Der Präsident Mustafa Akıncı ist ein ausgesprochener Kritiker der türkischen Politik in Syrien, und führt Gespräche mit dem Präsidenten der Republik Zypern, Anastasiadis. Er bezeichnet die Politik der Türkei gegenüber Nordzypern als Kolonisierung.
Erdoğan hat keine Freude mit diesem Lokalpolitiker.

Zypern ist eine Art Faustpfand, oder Miniatur des griechisch-türkischen Konfliktes.
Zypern war damals – 1994, als es beitrat – für die EU interessant, weil es ein wichtiger Bankplatz für Petrodollars war und das zypriotische Pfund eine Hartwährung.
Heute schaut das alles anders aus.
Die Teilung Zyperns ist also nicht nur als Unterpunkt des Konfliktes Griechenland-Türkei, sondern auch als Abgrenzung zum Sanierungsfall der EU zu betrachten.
Die türkischen Nationalisten betrachten Zypern als türkisch – es gehörte mehr als 2 Jahrhunderte zum Osmanischen Reich – und die zypriotischen Türken und Griechen wissen das, deswegen auch der Protest gegen den Einmarsch in Syrien. Er wird zu Recht als das Geltendmachen eines Anspruchs verstanden, der gegenüber Zypern auch besteht.

DER SYRIENKONFLIKT
2011 war die Türkei im Inneren konsolidiert: Durch das Referendum und den Ergenekon-Prozeß wurde die Opposition mehr oder weniger pulverisiert. So gerüstet schickte sich die AKP an, die neuen nordafrikanischen und arabischen Protestbewegungen für sich auszunützen, um ihren Einfluß zu erweitern.
In der Tradition von Menderes und Özal sah Erdoğan seine Stunde gekommen, um den „Arabischen Frühling“ für die Türkei zu einem Aufbruch zu neuen Ufern zu nützen. Einflußnahme, Abhängigkeiten, befreundete muslimische Regierungen, Grenzrevisionen – alles schien möglich.

Als dann die Kurden in Nordsyrien militärische Erfolge erzielten und Unterstützung von den USA erhielten, brachte das das labile Gleichgericht im Südosten der Türkei zum Kippen. Die PKK-Guerilla erstarkte durch Hilfe aus Syrien und kontrollierte gar nicht so wenig türkisches Gebiet.
Die damalige Strategie der PKK/YPG war – so um 2012 –, sich in der Türkei politisch mit der Regierung zu einigen, um militärische Kräfte zum Aufbau eigener Machtstrukturen in Syrien freizubekommen.

Als die türkische Regierung dann mit dem IS packelte, damit der Rojava fertigmacht, kam es zu einem Volksaufstand in der Türkei, weil die Grenze geöffnet werden sollte – rund um die Schlacht um Kobane Ende 2014.
Damals kamen Peshmergas aus dem Irak – über türkisches Staatsgebiet – den Kämpfern in Kobane zu Hilfe, was Verhandlungen in mehrere Richtungen erforderlich machte.
Von Seite der Türkei war das ein Versuch, die PKK zu schwächen, indem die bekannt pkk-feindlichen irakischen Kurden eingesetzt wurden – das hat aber nicht funktioniert, sondern eher die beiden kurdischen Fraktionen einander nähergebracht.

Türkisch-syrische PKK und irakische Barzani-Anhänger schätzen einander nicht besonders – es geht um die Frage, ob man einen eigenen Staat einrichten, oder in bestehenden Staaten Autonomie erreichen will. (Es geht natürlich im weiteren auch darum, wer in einem möglichen kurdischen Staat die erste Geige spielen dürfte, und wie dieser Staat aufgebaut sein sollte.)

Der Einmarsch der türkischen Truppen in Afrin 2018 war ein Schritt, um das Entstehen einer kurdisch dominierten territorialen Einheit im Süden der Türkei zu unterbinden und im Inneren die Entschlossenheit der Wahrung der nationalen Einheit zu bekräftigen – um sich gegenüber Putschisten und Kurden als starkes Gewaltmonopol zu präsentieren.
Dieser Einmarsch hatte den Segen Rußlands, das damals den Luftraum über Syrien – und damit auch Afrin – kontrollierte.
Warum?
Max meint: Um die Kurden daran zu erinnern, daß sie zu Syrien gehören, daß die syrische Regierung und Rußland ihre Schutzmächte und Zuständigen sind – und nicht die USA.

Das Wesentliche ist immer die Lufthoheit: Die USA haben sich diesbezüglich zurückgezogen und damit liegt es an Rußland, was dem türkischen Militär erlaubt, und was verboten ist.

Rußland hat immer klargestellt, daß es Syrien in den Grenzen von 2010 wiederherstellen will, in diesen Rahmen fällt auch die teilweise Eroberung von Idlib, wo sich die letzte Bastion der Anti-Assad-Dschihadisten befindet.
Die Türkei wirft Rußland vor, damit das Sotschi-Abkommen verletzt zu haben.
Dort wurde allerdings die Entmilitarisierung von Idlib vereinbart, was die Türkei nicht gemacht hat. Das wäre auch unmöglich, weil die dortigen Dschihadisten würden dem nie zustimmen, und die Türkei will und kann sie nicht dazu nötigen.
——

Der letzte Teil des Interviews (15 Minuten) ist hier.

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Thema:Gesellschaft
Sprache: Deutsch
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