Die Alkoholabhängigkeit
Die neue Ausgabe von ‚Sigs Seelenkiste‘ befasst sich mit dem Thema ‚Alkoholabhängigkeit‘. Im Gespräch mit Dr. Werner Heran von B.A.S, der steirischen Gesellschaft für Suchtfragen und einem Mitglied der anonymen Alkoholiker. Mit freundlicher Unterstützung von Martin Schemitsch.
Hausärztliche Kurzintervention bei PatientInnen mit alkoholabhängiger Störung
Unbestritten nimmt die Alkoholkrankheit als Österreichs sozialmedizinisches Problem den ersten Platz ein. Die Anzahl derer, die einer aktuellen Gefährdung durch Alkohol ausgesetzt sind und mindestens einmal jährlich in die Hausarztpraxis kommen, liegt bei siebzig Prozent. Allerdings werden nur wenige dieser PatientInnen rechtzeitig auf ihr Alkoholproblem angesprochen und erfahren folglich keine suchtspezifische Betreuung. Die Kurzintervention durch den Hausarzt oder die Hausärztin stellt eine Möglichkeit dar, den PatientInnen eine verbesserte Veränderungsmotivation zu bieten und die Behandelbarkeit der alkoholkranken PatientInnen zu fördern.
In einer Gesellschaft ohne Drogen gäbe es weder Konsum noch Abhängigkeit von denselben, ungeachtet des vermeintlich genetischen Risikos eines Individuums an Sucht zu erkranken. Eine drogenfreie Gesellschaft existiert jedoch nicht und diese Vorstellung wäre vermutlich ohnehin utopisch. Anti-Psychiater, Philosophen und Verhaltenstherapeuten erklärten Alkoholismus zu einem erlernten Fehlverhalten und bezeichneten ihn sogar als schlechte Angewohnheit. Gerade Alkoholismus läßt sich nicht in einen biomedizinischen Rahmen pressen. Der Alkoholkrankheit einen monokausalen Beginn zu unterstellen, gilt nicht nur als einseitige Betrachtungsweise, sondern fördert auch die in der Bevölkerung weitverbreitete Vorstellung, Alkoholismus stelle weniger eine Krankheit als vielmehr eine moralische Unzulänglichkeit des Einzelnen dar. Die biopsychosoziale Herangehensweise bemächtigt zu einer umfassenderen Wahrnehmung und daher sollte im Zusammenhang mit der Diagnose ‚Alkoholkrankheit‘ an das „Suchtdreieck“ (Feuerlein 1998) mit seinen zentralen Punkten wie Umwelt, Person und Droge, gedacht werden.
Das Suchtrisiko hängt nicht nur von der Substanz, sondern auch von der Persönlichkeitsstrukturierung des betroffenen Individuums ab. Ängstliche, depressive oder impulsive Menschen tragen ein individuell hohes Suchtrisiko. Beispielsweise gelten Heroin oder Nikotin als Drogen mit einem hohen Suchtpotenzial und im Vergleich zu Alkohol kann eine raschere Abhängigkeit bestehen. Lebensbereiche bestimmter Berufsgruppen wie der Gastronomie-, Künstler- und Mediensparte stechen ebenso durch das erhöhte Risiko zur Entwicklung einer Suchtkrankheit hervor.
Trotz seiner jahrtausendealten Geschichte gilt Alkoholismus fälschlicher Weise als Kind unserer Zeit. Schon in prähistorischen Zeiten konnten Menschen aus Fruchtsäften, Getreide, Milch oder Honig wein- und bierhaltige Getränke herstellen. Neben der durststillenden Qualität des Alkohols wurde vor allem seine psychoaktive Wirkung – sprich der Rausch – geschätzt. Als Zustand der Bewusstseinserweiterung, ähnlich der Trance, Meditation, Hypnose und Ekstase, nahm der Rausch gesellschaftlich einen breiten Raum ein. Dennoch warnten bereits Gelehrte der Antike vor übermäßigem Weinkonsum und der daraus beobachteten Abhängigkeit. Der Empfehlung zur Selbstkontrolle und Änderung der Trinksitten folgte ein moralisches Urteil begleitet von prohibitiven Maßnahmen. So wurde der Genuss berauschender Getränke im Buddhismus und Islam schlichtweg verboten, was eine Verhaltensänderung implizierte, die im heutigen soziokulturellen Kontext eine nach wie vor deutliche Präsenz aufweist. Die ambivalente Betrachtungsweise der Mediziner aufgrund der angenommenen heilsamen Wirkung des Alkohols führte erst im Jahr 1780 unter dem schottischen Arzt Trotter im Zuge der Aufklärung zur Vorstellung der Alkohlkrankheit.
Aufgrund der pharmakologisch-toxischen Wirkung des Alkohols sind letztlich alle Organsysteme des menschlichen Körpers betroffen. Alkohol wirkt kardiodepressiv, setzt die Muskelkraft herab, steigert die Darmperistaltik, führt zu gastrointestinalem Reflux, reduziert die Nierenfunktion und hat eine mutagene, teratogen sowie kokarzinogene Wirkung. Außerdem beeinflusst Alkohol das zentrale Nervensystem, unter anderem durch die gestörte Stoffwechselfunktion. Die unzureichende Aufnahme, Übertragung und Verarbeitung von Informationen liegt dem schädigenden Mechanismus auf das retikuläre aktivierende System (RAS) zugrunde, das seinerseits die Hirnrinde, den Thalamus und Hypothalamus beeinflusst. Alkohol wirkt narkotisch und erhöht die Schmerzschwelle. Übermäßiger Alkoholkonsum fördert die Verminderung der Neuronen im frontalen Kortex, des Kleinhirns und dem Hippokampus mit zusätzlicher Erweiterung der intra- und extrazellulären Liquorräume, welche in der kraniellen Computertomographie nachweislich aufscheint. Somit schwinden die verbalen und non-verbalen Fähigkeiten der Alkoholkranken, ihr Kurzzeitgedächtnis lässt nach und aufgrund der extravertierenden Wirkung ist die Neigung zu riskanten Entscheidungen gesteigert.
Tatsächlich gab es trotz vermehrter empirischer Untersuchungen keine Hinweise auf eine typische Alkoholikerpersönlichkeit. Hingegen wurde im Zuge der strukturierten klinischen Interviews ein deutlicher Zusammenhang zwischen Alkoholismus und antisozialen, histrionischen sowie dependen Persönlichkeitsstörungen gefunden. Vergleichsweise greifen SchizophreniepatientInnen hinsichtlich des Substanzmissbrauches ebenso vermehrt zu Alkohol, wobei gerade in diesem Verhalten die Selbstbehandlungshypothese eine Rolle zu spielen scheint. Die allgemein gebräuchliche Typologie von Lesch berücksichtigt Komorbiditäten und Therapiestrategien. Demnach stellt Typ I die „Allergie“ dar, wobei das Problem im Alkoholstoffwechsel liegt und die Entzugssymptome dieser PatientInnen nach einer initial oft sehr hohen Alkoholisierung (>2,5%.) von starker Intensität, wie grobschlägigem Tremor, stark instabiles kardiovaskuläres System, starkem Schwitzen bis zum Delirium tremens und eventuellen epileptischen Anfällen geprägt ist. Typ II charakterisiert die „Angst“, wonach Alkohol als Konfliktlöser gehandelt wird und Entzugssymptome als ängstlich dysphorische Durchgangssyndrome auffallen. Die „Depression“ gilt als Schlagwort für Typ III, der sich durch psychiatrische Doppeldiagnosen und somit echter Komorbidität sowie suizidale Einengung darstellt. Letztlich erscheint Typ IV als „Gewöhnung“ und beschreibt die voralkoholischen zerebralen Schäden, wo sich ein leichter zerebellärer Tremor ohne Schwitzen und ein stabiler Kreislauf findet, wobei der Intellekt und das Gedächtnis dieser PatientInnen als stark beeinträchtigt herausragt.
Die Diagnose Alkoholabhängigkeit wird von den meisten PatientInnen zunächst nicht akzeptiert. Daher gilt für ihre Sicherung das Auftreten von mindestens drei der folgenden Kriterien in der Tabelle (siehe unten) „Kriterien für die Diagnose der Alkoholabhängigkeit.“ Gerade durch Hausärzte und Hauärztinnen kann die Kurzintervention bei PatientInnen mit alkoholbezogenen Störungen gelingen. Als Grundlage gilt die Einsicht, dass Menschen, die ihr Trinkverhalten ändern wollen, Zeit benötigen. Die Schritte zur Verhaltensänderung umfassen die Absichtslosigkeit, die Absichtsbildung, die Vorbereitung und die Handlung. Das vertrauensvolle Gespräch und die stabile Beziehung zum Arzt bzw. zur Ärztin können im Prozess der Veränderung förderlich sein. Die hausärztlichen Kurzinterventionen bestechen durch eine hervorragende Wirksamkeit. Die Intervention selbst sollte sich auf das jeweilige Stadium der Verhaltensänderung und der damit verbundenen Änderungsbereitschaft beziehen. Alkoholabhängige PatientInnen sollten daher nicht kritisiert werden, stattdessen könnte man ihnen empathisch begegnen und ihr Selbstvertrauen stärken sowie Informationen anbieten ohne die PatientInnen dabei zu bedrängen.
Letztlich sollte durch den Hausarzt oder die Hausärztin sichergestellt werden, dass der Kontakt zum bzw. zur alkoholkranken Patienten/Patientin weiterhin besteht. Wahrhaftig sind auch die kleinen Schritte Erfolge im Umgang mit Alkoholkranken, obgleich Rückschritte einen Teil des Gelingens darstellen.
TABELLE:
Mindestens 3 zutreffende Kriterien für die Diagnose der Alkoholabhängigkeit:
– Toleranzentwicklung (Dosissteigerung)
– Eingeengtes Verhaltensmuster
– Konsum trotz nachteiliger Folgen (psychisch, physisch, sozial)
– Kontrollverlust bezüglich Beginn, Menge und Ende des Konsums
– Übermächtiger Konsumwunsch oder –zwang
– Körperliches Entzugssyndrom
– Vernachlässigung anderer Interessen
– Konsum zur Vermeidung von Entzugssymptomen
Text von Madeleine Kassar, September 2015
Weiterführende Literatur:
Suchtmedizin kompakt: Suchtkrankheiten in Klinik und Praxis (Felix Tretter)
Alkoholismus: Warnsignale – Vorbeugung – Therapie (Wilhelm Feuerlein)
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