Der Nationalsozialismus und seine nachträgliche Verdichtung (Teil 5)
Der Nationalsozialismus und seine nachträgliche Verdichtung (Teil 5)
Bemerkungen zur nationalsozialistischen Herrschaft – und den ideologischen Verrenkungen nachher
Die Verdichtung nachher am Endpunkt: Der deutsche Katechismus
„Zu den meisten Kriegsverbrechen, Massakern und Schlächtereien in der Geschichte gibt es eindeutige Stellungnahmen. Ein Massaker im Rahmen eines kolonialen Krieges wird entweder mit dem Hinweis auf militärische oder politische Notwendigkeiten gerechtfertigt oder aus humanitären Gründen verurteilt. Der Sinn eines solchen Massakers ist aber auch seinen Kritikern einsichtig. Man verurteilt das Verbrechen, weiß aber, warum es stattfindet. Bei Auschwitz stellt sich das anders dar. Die Verurteilung des Massenmordes an den europäischen Juden ist (fast) einhellig. Dafür wird in der Regel davon ausgegangen, daß sich in diesem Fall das letztendliche Motiv für dieses Verbrechen der Kenntnis und der Nachvollziehbarkeit der Kritiker entzieht.“ (Stefan Grigat, Ökonomie der „Endlösung“? „Weg und Ziel“ 1997)
In der Tat: „Kriegsverbrechen, Massaker und Schlächtereien in der Geschichte“ – da gehört Auschwitz hin, von Einzigartigkeit bislang keine Rede. Die Gegenüberstellung – ein Massaker wird entweder gerechtfertigt oder verurteilt – die stimmt allerdings nicht: Beides ist der Fall, die Veranstalter rechtfertigen, und die Opfer oder Unbeteiligte verurteilen. Es stimmt auch nicht, dass jedes Massaker, sobald durch eine militärische oder politische Zweckmäßigkeit begründet, damit auch schon gerechtfertigt ist: Das hängt eben von der Parteienstellung des Betrachters ab, das gilt schnörkellos nur für die je „eigene“ Seite, für die Nation, die den Veranstalter gibt; da gilt: zweckmäßig gleich gerechtfertigt; das gilt auch nicht nur für die meisten, sondern für alle „Kriegsverbrechen“. Auf der anderen Seite gilt die Umkehrung, dem Massaker der Gegner wird jeder politische oder militärische Zweck, damit auch jedes Verständnis verweigert bzw. abgesprochen. Übrig bleibt dann „das Böse“ – das ist eine moralische Konstruktion, das grundlose Massaker um seiner selbst willen, also ohne jene Rechtfertigungen und ohne das Verständnis, das die je „eigenen“ Schlächtereien üblicherweise genießen.
Der Unterschied zwischen den üblichen Massakern und Auschwitz liegt in dieser Darstellung woanders, nämlich nicht in der Sache, sondern erst mal in der mangelnden „Kenntnis und Nachvollziehbarkeit“ durch die Kritiker. Beides ist bei Auschwitz angeblich nicht gegeben. Wenn man etwas nicht weiß, den Grund für ein Massaker nicht kennt, dann ist das eine Auskunft über die Kenntnisse der Beobachter, ein Befund über die erkennenden Subjekte, und nicht über die Sache. Eine offenkundige Gemeinsamkeit von „Auschwitz“ mit anderen Massakern, Schlächtereien etc. ist vorhanden, wird hier allerdings ignoriert: Auch dieser Völkermord wurde gerechtfertigt, von seinen Veranstaltern nämlich, die ihre Motive ausführlich geäußert haben, und das gute deutsche Volk damit erfolgreich agitiert haben. Hitler hat seine Motive unermüdlich breitgetreten, hat sich den Mund fusselig geredet und bei jeder Gelegenheit seine Hasspredigten verbreitet, kennen könnte man das Motiv schon, es lautet „feindliches Volk“, man müsste es halt zur Kenntnis nehmen – und die Nachvollziehbarkeit, also die Frage, ob das Motiv auch in die eigenen Vorstellungen von Politik passt, ist ohnehin eine andere. Wenn man nun glaubt, die breit geäußerten Motive der Täter hätten mit der Tat nichts zu tun, dann wäre das natürlich zu erläutern. Obige Darstellung ist insofern ein Dokument der Ignoranz; die erwähnte (fast) einhellige Verurteilung und die „Unkenntnis“ des Motivs, die ist kein Befund distanzierter Beobachter, die ist ein Resultat der Niederlage des Dritten Reichs, sie tritt erst nachher in Kraft. Nochmal zum Unterschied:
„Mit ihrer Auffassung, die Shoah sei nur im Rahmen der umfassenden, weitere Vernichtungen einschließende Modernisierungspläne der Nazis zu begreifen, laufen sie (Aly/Heim) Gefahr, den Unterschied zwischen der antisemitisch motivierten Massenvernichtung in Auschwitz einerseits und dem imperialistisch-rassistischen Feldzug gegen die sonstige Bevölkerung andererseits einzuebnen. Selbstverständlich gab es diese umfassenden Vernichtungspläne bezüglich Russen, Polen und anderen slawischen Völkern. … Bei den Vernichtungsplänen gegen Russen, Polen etc. ging es um klar definierte Zwecke. Die an ihnen begangenen Untaten fallen in jene eingangs erwähnte Kategorie von Verbrechen, bei denen auch dem Kritiker die Ziele dieser Taten offen vor Augen liegen. … Daß die deutsche Wehrmacht auch dabei mit in der Geschichte fast beispielloser Brutalität vorging darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Handlungen zweckgebunden waren. Eine endgültige Vernichtung des ‘Russentums’ war nie genuines Ziel der nationalsozialistischen Ideologie.“ (ebd.)
Was als subjektives Unwissen des Kritikers eingeführt wurde, ist nun die objektive Bestimmung der Sache: Keine Ziele, keine Zwecke, damit keine Gründe – es gibt nichts zu wissen. Nun gut – wenn man es nicht wissen will … Aber – warum und aus welchen Motiven erwächst überhaupt das Bedürfnis, zwischen den diversen Leichenbergen, die das Dritte Reich produziert hat, noch einmal zu selektieren? Sozusagen Opfer erster Güteklasse von Opfern minderen Ranges zu unterscheiden – wobei der Unterschied in den Zielen und Zwecken liegt, aus denen Russen, Polen, etc. getötet wurden; Juden angeblich aber nicht. Staaten, auch das in dieser Hinsicht ganz normale Dritte Reich, die gehen halt über Leichen, wenn es ihnen militärisch, strategisch etc. nützt – weltfremd will Grigat offenbar nicht erscheinen, und dass die vom „eigenen“ Staat produzierten Leichen für dessen Anhänger auch gerechtfertigt sind, ist auch bekannt.
Wenn aber der deutsche Patriot seinem „natürlichen“ Rechtfertigungsbedürfnis nicht nachgeben darf – Deutschland musste sich schließlich zur Schuld am Völkermord bekennen, das war die conditio sine qua non für den deutschen Neubeginn unter den Fittichen der USA –, dann ist diese Unterscheidung der Güteklassen der Opfer eine unterstützende Hand- oder Hirnreichung: Wenn es denn wirklich sinnlos, zwecklos, nutzlos ist, das massenhafte Umbringen von Juden, dann ist damit jedem Rechtfertigungsbedürfnis die sachliche Grundlage entzogen: Bedingungslose Verurteilung erheischt die absolute Zwecklosigkeit. Der superdeutsche Verstand sichert sich durch die berühmte „Einzigartigkeit“ ab – die Verurteilung der sog. „Verbrechen“ wird erst durch die Unerkennbarkeit wasserdicht. Womöglich hat das deutsche Nationalbewusstsein instinktiv den Verdacht, die Verurteilung, die kompromisslose Ablehnung wäre durch Kenntnisse der Motive gefährdet. Wenn das Massaker einen – irgendeinen! – Zweck hätte, wäre die bedingungslose Verurteilung in Schwebe, das Verstehen könnte in Verständnis übergehen. Vielleicht wirklich einzigartig und insofern superdeutsch ist in dem Fall nur, dass, was üblicherweise für den Feind gilt – keine Gründe, also böse – in diesem Fall für die deutsche Befassung mit der deutschen Geschichte gilt, man darf im Rückblick daher keine Interessen, keine Ziele und Zwecke entdecken.
Dieses Bedürfnis der Unterscheidung zwischen den diversen Leichenbergen des Dritten Reiches ist keine Erfindung dieser Debatte und dieser Kritiker, sondern eine praktische deutsche Errungenschaft: Wiedergutmachung an ausgewählte Opfer. Daraus hat der nachkriegsdeutsche Standpunkt offenbar auf die Singularität von Auschwitz geschlossen: Die BRD hätte tatsächlich nachher noch einmal und rein moralisch selektiert, und die Opfer des Nationalsozialismus nach dem Kriterium „zweckmäßig und zielgerichtet“ bzw. „völlig sinnlos“ sortiert, und den „völlig zwecklosen“ – sozusagen den reinen, den unbefleckten – eine Vorzugsbehandlung angedeihen lassen.
Der deutsche Katechismus
Diese Sicht passt zumindest nahtlos in die neudeutsche Erlösungslehre, den „Katechismus“. Die Bezeichnung stammt von Dirk Moses, einem australischen Historiker und Völkermordforscher, der die Resultate der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ bewältigt, indem er sie mit Hohn und Spott übergießt: Von der Schuld, über das Bekenntnis zur Sünde, zur Vergebung und zur Erlösung!
„Die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch ist für viele das moralische Fundament der Bundesrepublik. Diesen mit anderen Genoziden zu vergleichen, gilt ihnen daher als eine Häresie, als Abfall vom rechten Glauben. … Millionen Deutsche haben während der vergangenen Jahrzehnte verinnerlicht, dass für die sündige Vergangenheit ihrer Nation nur über den Katechismus Vergebung zu erlangen ist. Kurz gefasst impliziert der Katechismus eine Heilsgeschichte, in der die ‘Opferung’ der Juden durch die Nazis im Holocaust die Voraussetzung für die Legitimität der Bundesrepublik darstellt. Deshalb ist der Holocaust für sie weit mehr als ein wichtiges historisches Ereignis: Er ist ein heiliges Trauma, das um keinen Preis durch andere Ereignisse – etwa durch nichtjüdische Opfer oder andere Völkermorde – kontaminiert werden darf, da dies seine sakrale Erlösungsfunktion beeinträchtigen würde. Für den Historiker Dan Diner etwa nimmt der Holocaust als Zivilisationsbruch den Platz ein, der vormals Gott zukam.“ (https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/)
Habe das nicht weiter verfolgt, es soll sogar eine kleine Katechismus-Diskussion im Feuilleton gegeben haben – das ist jedenfalls ein logischer Endpunkt der deutschen Selbstbeweihräucherung via „Auschwitz“, die neue Staatsreligion: Einzigartig!
Das andere Ergebnis der Grund- und Zwecklosigkeit, neben der nationalistischen Selbstvergötzung Deutschlands durch diesen Katechismus, das besteht darin, dass man analytisch, in Sachen Erkenntnis, buchstäblich auf Null gelandet ist. Man weiß nichts und man kann nichts wissen – d.h. es ist damit rein gar nichts kritisiert, diskreditiert, kompromittiert, nichts ist in Misskredit gebracht. Kein Stück Staat, Politik, Nation ist tangiert. Das nicht-wissen-können ist der implizite Freispruch für Staat, Politik, Nation, und: Wer theoretisch auf Null ist, ist damit praktisch handlungsunfähig. „Wehret den Anfängen“ ist ja ein netter Spruch – aber den Anfang eines grund- und zwecklosen Phänomens zu erkennen und ihm zu „wehren“? Wie denn? Dabei sind diffuse Ahnungen schon vorhanden:
„Prinzipiell ist der Hinweis von Aly/Heim auf die Bedeutung des Kriegsbeginns und später des Angriffs auf die Sowjetunion für die Radikalisierung der antisemitischen Maßnahmen richtig. … Durch den Krieg erlangten die von den Nazis selbst erneut reproduzierten Figuren des ‘Monopol-’, ‘Kollektiv-’ und letztlich auch ‘Liberalitätsjuden’ in den Augen des nationalsozialistischen Staates reale Gestalt und verfügten in Form der alliierten Kriegsgegner nun über ein tatsächliches Bedrohungspotential. Der beginnende Krieg erschien als existentieller Entscheidungskampf gegen die Juden. So gesehen wurde die Judenvernichtung mit dem Krieg rational, aber nicht im wirtschaftlichen Sinne, sondern rational innerhalb des faschistischen Wahns.“ (Grigat ebd.)
Stimmt, der Krieg gegen das „Judentum“ war ein Teil des Zweiten Weltkriegs, so wie der Völkermord an den Armeniern ein Teil des Ersten Weltkriegs war, aber das behält man ev. besser für sich, weil das womöglich als Verharmlosung empfunden wird, bei Leuten, die sich wohlig in der „Einzigartigkeit“ eingehaust haben, in der Entpolitisierung ausgerechnet des Völkermordes. Krieg führt ja bald wer, eine rigorose Verurteilung ohne jede Relativierung wäre da womöglich nicht mehr drinnen, nachdem es für „Kriegsverbrechen und Massaker … eindeutige“ – und daraus folgende rechtfertigende! – „Stellungnahmen“ gibt. Der Beschluss zur „Endlösung“ wurde um die Jahreswende 1941/42 gefasst, die „Wannsee-Konferenz“ datiert Anfang 1942. Damals war klar, dass das mit dem Blitzkrieg gegen die Sowjetunion nichts geworden ist, dass sich die Schlächterei in die Länge zieht. Hitler hatte den USA den Krieg erklärt, die Vermeidung des Zweifrontenkriegs hat nicht geklappt, es kündigt sich der Endkampf an, der deutsche Existenzkampf. Also fällt die Entscheidung zur Vernichtung des Bolschewismus auch im Inneren des deutschen Machtbereichs: Auch Völkermord ist ein Stück Realpolitik. Das öde Rätsel, wieso an der Front benötigte Transportkapazitäten für die Transporte nach Auschwitz verwendet wurden, ist keines: An beiden Orten wurde ein und derselbe Feind bekämpft.
Der Rede vom „faschistischen Wahn“, innerhalb dessen die Judenvernichtung „rational“ wurde, ist ja zuzustimmen. Im Aufsatz von Grigat wird aber „rational“ mit „ökonomisch nützlich“ gleichgesetzt; was nicht ökonomisch nützlich ist, ist dann irrational gleich unerklärlich. Das ist eine Themenverfehlung. Es handelt sich schon um einen Wahn; allerdings um den ganz normalen Wahn namens Politik, Volk, Staat, Nation, VOLKSGEMEINSCHAFT. Die Konstruktionsprinzipien des Wahns sind im staatsbürgerliches Grundwissen enthalten, es sind nationale basics: Was ist ein Volk, was ist sein Charakter, seine nationale Identität; dazu das nationaldogmatische „so sind wir nicht!“
Epilog: Die „UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ aus dem Jahr 1948
Die Familie der Völker, die in der UNO beieinander hockt, hat zum Völkermord eine eindeutige Stellung: von „Einzigartigkeit“ kann keine Rede sein. Die Staaten – also die maßgeblichen Akteure der Zivilisation – gehen davon aus, dass sie selber bzw. wenigstens ihre gewaltmonopolistischen Artgenossen oder auch in Sachen Gewaltmonopol ambitionierte „Gruppen“ durchaus Gründe für Völkermord hatten oder haben, den sie wie folgt definieren, und untersagen:
Unter „Völkermord“ fallen „Handlungen, die in der Absicht begangen (werden), eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. … Der Text der Konvention wurde maßgeblich von Raphael Lemkin formuliert, der den Begriff des Genozids 1944 unter dem Eindruck der Vernichtung der Armenier (1915 – 1916) und der Vernichtung der Juden (1941 – 1945) geprägt hatte.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Konvention_%C3%BCber_die_Verh%C3%BCtung_und_Bestrafung_des_V%C3%B6lkermordes)
Es geht um „Gruppen“, von denen die Staatengemeinschaft annimmt, dass sie bedroht sind. In dem Sinn, dass die bloße Zugehörigkeit eines Individuums zu so einer Gruppe für das Todesurteil ausreicht, völlig unabhängig von den Taten oder Unterlassungen des Individuums. Nun, diese Gleichgültigkeit und Gleichmacherei spielt sich zwar in jedem Krieg ab; die Redeweise von Gruppen stellt aber darauf ab, dass es nicht „Bürger in Uniform“ sind, die sich im Auftrag ihrer Staaten niedermetzeln, was mit einer Niederlage, der Kapitulation und den Diktaten der Sieger endet. Den Unterzeichnern der Konvention ist offenbar eine Unterscheidung vertraut, die Staaten öfter mal vornehmen – die zwischen erstens einem Staatsvolk, das ist die Gruppe der unbedingt Zuverlässigen, der eingeschworenen fraglosen und bedingungslosen Mitmacher, auf die Verlass ist, weil ihre nationale Identität als persönliche Eigenschaft der Individuen diese Zuverlässigkeit verbürgt, womöglich auch noch im Blut oder der DNA fixiert ist, wie das Hitler so nachdrücklich formuliert hat; zeitgemäßer sind Gesichtspunkte wie Sprache, Religion, Kultur. Und zweitens anderen „Gruppen“, die nicht zu dieser privilegierten Menschensorte zählen, aber auch unter derselben staatlichen Herrschaft leben müssen, auch wenn diese Herrschaft keine positive Verwendung für sie hat, und sie deswegen auch nicht mit den Bürgerrechten ausstattet oder wenigstens in manchen Hinsichten diskriminiert. Wenn diese nicht so erwünschten Angehörigen von – „nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen“ – Gruppen, die üblicherweise Minderheiten heißen, dann womöglich zum Ziel einer „ethnischen Homogenisierung“ werden – das Verbot einer Sprache oder Religion ist da einschlägig –, und wenn die wegen solcher Diskriminierungen auch noch renitent werden, dann wird es möglicherweise ungemütlich; so eine Widersetzlichkeit muss aber gar nicht sein, wieder siehe Auschwitz. Wenn diese „Gruppe“ dann auf die Idee kommt, sie bräuchte einen „eigenen“ Staat, um auch voll- und gleichberechtigt als Staatsvolk leben zu können, dann ist es mit der Gemütlichkeit endgültig vorbei und die Terrorismusbekämpfung beginnt. Ob es sich dabei um Völkermord handelt, das entscheiden in ordentlichen Verhältnissen die zuständigen Gerichte. Staaten sind die üblichen Subjekte beim Völkermord, deswegen wurde weder der an den Armeniern und auch nicht der an den Juden „verhindert“ – nach dem Krieg organisieren dann die Sieger die üblichen Prozesse im Namen der UN-Konvention. Oder auch nicht.
Es genügt übrigens ab und an, dass in einem „failed state“ Bürgerkriegsparteien darum kämpfen, welcher Staat für welches Staatsvolk es denn werden soll, und die „Gruppen“ einander deswegen eliminieren wollen. Auch das gehört als Staatsgründung zur modernen Zivilisation. Die Schlächtereien in Ruanda 1994 gelten als diesbezüglicher gerichtsnotorischer Präzedenzfall. Oder wenn im ehemaligen Jugoslawien die Vielvölker einander an den Kragen gehen, weil jeder Kroate oder Serbe oder Kosovare zur falschen Zeit am falschen Ort sein Recht auf seinen „eigenen“ Staat als Person verkörpert – völlig egal, ob der Betreffende das auch will –, also ein Feind ist, weil er allein qua Anwesenheit das völkische Recht einer anderen staatsgründenden „Gruppe“ negiert.
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Die Begeisterung über die positive deutsche Identität via „Auschwitz“ lässt sich auch ohne Abflug ins Religiöse zur Darstellung bringen. Auschwitz spricht eindeutig für Deutschland, via „Erinnerung, Reue, Verantwortung im Gestus des Geläuterten“ – haben fertig! Billiger geht’s nicht, wer nichts wissen kann, kann sich mühelos bekennen! Natürlich ziehen „wir“ uns in periodischen Ritualen an nationalen Feiertagen den „Horror“ rein – als Auftakt zur Feier der guten Nationallaune! Der Dichter Walser war seinerzeit offenbar der Meinung, Deutschland hätte diesen „Umweg“ nicht mehr nötig:
„‘Auschwitz’, um die Kurzformel zu gebrauchen, ist längst zum konstitutiven Bestandteil dieser Republik, ja zum Teil ihrer Verfassung geworden. … Dieses Deutschland, das glücklichste in der Geschichte, bezieht merkwürdigerweise auch seine positive Identität aus dem Menschheitsverbrechen. Wie das? Die Liste ist endlos. Die Verfassung? Nie wieder Weimar. Staatsbürgerrecht? Nie wieder wie bei den Nazis. Menschenrechte? Damals wurden sie zertrampelt, jetzt sind sie unantastbar. Pressefreiheit? Natürlich, als Bastion gegen die Totalitären. Außenpolitik? Stets in der Gemeinschaft, damit die Deutschen nie wieder dem Hegemonialwahn verfallen können. Erinnerung, Reue, Verantwortung sind Teile der ungeschriebenen Verfassung. Anfänglich hat man es dem Ausland zuliebe getan, so wie Adenauer kühl kalkulierend die Wiedergutmachung beschloß, um den USA zu gefallen. Aber daraus ist ein Stück raison d’état geworden. So stellt sich das ‘bessere Deutschland’ dar – nicht im kollektiven Flagellantentum, wie die Walsers wähnen, sondern mit dem Gestus des Geläuterten, der einen moralischen Anspruch zu verkörpern sucht. … Wenn die Nation am 9. November der ‘Kristallnacht’ gedenkt … formiert sie sich in einem Ritual, das wie alle Rituale Halt, Sinn und Werte vermittelt: Wir erinnern uns an den Horror und zelebrieren so dessen Überwindung. Wer das wie Walser als ‘Lippengebet’ verhöhnt, verkennt die lebenswichtige Funktion von scheinbar ‘leeren’ Ritualen. Müßig hinzuzufügen, daß dies auch realpolitischen Zins zuhauf abgeworfen hat.“ (Josef Joffe, Süddeutsche Zeitung 12./13.12.1998)