Der Nationalsozialismus und seine nachträgliche Verdichtung (Teil 3)

27.11.2024

Der Nationalsozialismus und seine nachträgliche Verdichtung (Teil 3)

Bemerkungen zur nationalsozialistischen Herrschaft – und den ideologischen Verrenkungen nachher

Das Mittel auf dem Weg zur Weltmacht:
Der deutsche Mensch in seinem Drang – Gemeinnutz geht vor Eigennutz

Das ist der dritte Teil einer Reihe zu diesem Thema. Die Rede von der „nachträglichen Verdichtung“ ist natürlich absichtlich doppeldeutig gemeint, im Sinne der nachträglichen Verballhornung und Verfremdung des Dritten Reichs durch viel Dichtkunst, und der Zuspitzung auf den Völkermord an den Juden; Erinnerung an Moishe Postone im ersten Teil der Reihe:

„Andere Gesichtspunkte, die für den Nazismus zentral waren, sind dabei vernachlässigt worden. … Mit anderen Worten, was den Juden geschah ist instrumentalisiert und in eine Ideologie zur Legitimation des gegenwärtigen Systems verwandelt worden. Diese Instrumentalisierung [hat] die innere Beziehung zwischen Antisemitismus und anderen Aspekten des Nationalsozialismus verdeckt.“

Nachdem ich das Projekt einigermaßen zügig abhandeln möchte, gibt es möglicherweise Probleme mit den Sendeterminen bei den freien Radios, d.h. es werden eventuell nicht alle Teile auf allen Sendern zeitnah gebracht. Es empfiehlt sich, ab und an auf cba.media oder auf spotify oder auf freie-radios.net reinzuschauen, Podcast Kein Kommentar.

„Gemeinnutz geht vor Eigennutz“

Das anspruchsvolle Programm der Eroberung von Lebensraum im Osten als Weg zur deutschen Weltmacht erheischt das Zusammenschweißen des deutschen Volkes zur Kampfgemeinschaft, die wie ein Mann hinter dem Führer steht. Ich erspare mir viele Einzelheiten bei der Nachzeichnung der inneren Umgestaltung Deutschlands nach der nationalsozialistischen Regierungsübernahme; die große Linie: Der damalige Volkskanzler 1.0 hätte den heutigen österreichischen Bundespräsidenten energisch bekämpft, wenn dieser behauptet, in der Nation ginge es pluralistisch zu, und das gehöre sich auch: „Und das Volk, das sind wir alle. … Und wir sind unterschiedlich. Und unterschiedliche Dinge sind uns wichtig. Deshalb wählen wir auch unterschiedliche Parteien. Und niemand kann alleine das ganze Volk für sich beanspruchen.“ (Van der Bellen) Genau darin hat der Volkskanzler 1.0 seine Aufgabe gesehen: Die nationale Einheit herzustellen! Ein Volk, ein Reich, ein Führer – demokratisch gewählt oder nicht! Der Faschist will vereinen, nicht spalten, indem die spaltenden Elemente im Volk eliminiert werden. (1) Die politische Spaltung in Parteien – gemeint sind konkurrierende Politiker, die nur ihre Partikularinteressen vertreten und daher gegeneinander arbeiten, statt „gemeinsam“ fürs Vaterland –, die kommen auf „Fahndungslisten“ und gehen ins KZ. (2) Die Spaltung in gegensätzliche Klassen – die Organisationen der Arbeiterbewegung werden aufgelöst, die Führer der Arbeiterbewegung wandern ins KZ. (3) Die völkische Spaltung – die ist noch zu erläutern. Das Ergebnis ist die nationale Einheit: Wer sich nicht hinter dem Volkskanzler einreiht, gehört eben nicht zum Volk, wird ausgegrenzt und eliminiert. So geht Volkskanzler! In Absetzung gegen Van der Bellen: „Wir“, in unserer Eigenschaft als „Volksgenossen“, sind nämlich nicht „unterschiedlich“, da sind wir alle gleich, und „uns“ sind auch nicht „unterschiedliche Dinge wichtig“. „Wir“, das Volk, sind letztlich nur mit einem „Ding“ beschäftigt, nämlich mit „unserer“ Behauptung, „unserer“ Durchsetzung gegen andere Völker – nur das ist „uns“ wichtig!

Daher damals die Konklusion: „I. Die deutsche Armee muss in 4 Jahren einsatzfähig sein. II. Die deutsche Wirtschaft muss in 4 Jahren kriegsfähig sein.“ (Denkschrift Hitler 1936, zit. nach Konrad Hecker: Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung, München 1996, S.146.) Deutschland setzt sich also (übrigens schon vorher) über die militärischen Restriktionen der Siegermächte hinweg, die Ökonomie wird staatsdirigistisch auf Kriegswirtschaft eingestellt.

Einschub: Die berühmte nationalsozialistische „Massenbewegung“:
Woher aus der Klassengesellschaft kommen die Follower des Führers?

Die linke und die bürgerliche Forschung hat gefragt, woher denn die devianten Anhänger des Führers gekommen sind, die ihm nie hätten folgen dürfen. Alle Abteilungen der Klassengesellschaft sind durchgesehen worden: Von links hat man die ganz oberen und die ganz unteren Schichten entdeckt – das Finanzkapital, die Schwerindustrie und das sog. „Lumpenproletariat“; mehr bürgerlich gestimmte Forscher sahen das Proletariat in seiner Eigenschaft als Arbeitslosigkeit in der Verantwortung; bei Linken wurde das sog. „Kleinbürgertum“ entdeckt, denn die Proletarier sollten es ja nicht gewesen sein usw. Der Witz am und der Grund für den Erfolg des Nationalsozialismus ist ein anders akzentuierter Charakter, ein klassenübergreifender Typ: der „Citoyen“ nämlich, ist gleich der Patriot, ist gleich der Nationalist, oder auf faschistisch: der Volksgenosse. (vgl. ev.: Linker Nationalismus, https://cba.media/683061) Dazu ein kleines Bildungselement:

„Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit … das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist, die andern Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird. … Die Differenz zwischen dem religiösen Menschen und dem Staatsbürger ist die Differenz zwischen dem Kaufmann und dem Staatsbürger, zwischen dem Taglöhner und dem Staatsbürger, zwischen dem Grundbesitzer und dem Staatsbürger, zwischen dem lebendigen Individuum und dem Staatsbürger. … In dem Staat dagegen, wo der Mensch als Gattungswesen gilt, ist er das imaginäre Glied einer eingebildeten Souveränität, ist er seines wirklichen individuellen Lebens beraubt und mit einer unwirklichen Allgemeinheit erfüllt.“ (Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW Bd. 1)

Wir führen ein doppeltes Leben, wir existieren alle im Doppelpack, als Bourgeois und als Citoyen – mit „Bourgeois“ ist hier jedes Mitglied der kapitalistischen Erwerbsgesellschaft angesprochen, also klassenübergreifend Taglöhner, Kaufmann, Grundbesitzer, die ihre jeweilige Einkommensquelle bewirtschaften. Der citoyen, der Staatsbürger, das ist der Deutsche, der Österreicher, der Franzose etc. Die Massenbasis des Nationalsozialismus sind die Massen in ihrer Eigenschaft als Deutsche, die damaligen Österreicher immer mitgedacht – denen gelten die Appelle „Deutschland erwache!“, „Deutschland über alles“! Es gibt in der modernen Welt nicht den Arbeiter, den Kapitalisten, den Bauern – es existiert der italienische Arbeiter, der österreichische Bauer, der britische Kapitalist, der französische Arbeitslose. Jeder ist in Personalunion Bourgeois und Citoyen, Mitglied einer nationalen und einer Klassengesellschaft. Und so wie zur Klassenlage muss man sich auch zum jeweiligen nationalen Verein positionieren; zustimmend, ablehnend, gleichgültig (das geht eher nicht).

In welchem Verhältnis stehen der Bourgeois und der Citoyen? (Hier mit „Nationalist“ übersetzt, oder Patriot, ist identisch.) Nun, um überhaupt als Bourgeois, als Mitglied einer modernen geldverdienenden Gemeinde tätig werden zu dürfen, muss man zuerst mal als Citoyen, als Rechtsperson vom Staat mit den dafür gültigen Rechten und Pflichten ausgestattet sein. Mag sein, dass das relativiert ist, indem diverse Sorten von Ausländern in Europa zum Gelderwerb berechtigt sind – das ändert aber nichts daran, dass es sich dabei um diskriminierte Ausnahmen von der Regel handelt: Wer nicht Vollwertstaatsbürger ist, muss mit befristeten Bewilligungen und rechtlichen Beschränkungen und Schikanen zurechtkommen.

Um nun als Deutscher in und von, und in diesem Sinn durch Deutschland existieren zu können, muss der Bürger ab und an auch bereit sein, für Deutschland zu leben und gegebenenfalls dafür zu sterben. Sobald nämlich Deutschland in Not ist. Spätestens wenn es um das Sterben für das Vaterland geht, führt sich zwar die Vorstellung von einem Privatleben in und von und durch Deutschland endgültig ad absurdum, die vorgebliche Gewissheit, der Staat sei das Lebensmittel der Bürger, die schlägt praktisch ins Gegenteil um – der Bourgeois tritt jedenfalls zurück, geht im Citoyen bzw. im Volksgenossen auf und ist nur noch für Deutschland tätig! Anders: Wer bis zum Krieg alles mitmacht, macht i.d.R. auch im Krieg alles mit!

[Der Verweis auf Marx ist sachlich überflüssig, ein triviales Faktum. Kleiner Seitenhieb gegen Marxologen, die das nationale Fundament der Klassengesellschaft ignorieren bzw. für nicht weiter wichtig erachten und die den Nationalsozialismus oder zumindest den Antisemitismus aus der Marktökonomie bzw. einer verzerrten Vorstellung der Marktökonomie erklären wollen. (Ware, Wert, Geld, Fetisch, abstrakt, konkret … )

Der citoyen ist dann „mit einer unwirklichen Allgemeinheit erfüllt“. Über das „materielle“, das „wirkliche individuelle Leben“, das Marx in der „Kritik der Politischen Ökonomie“ in Grund und Boden kritisiert hat, kann man gern ein andermal diskutieren. In einer klassischen Variante liest sich der Zusammenhang vom gewöhnlichen Zustand in der Erwerbsgesellschaft und der Bereitschaft zu außerordentlichen Aufopferungen so, m.E. korrekt:

„Unter Patriotismus wird häufig nur die Aufgelegtheit zu außerordentlichen Aufopferungen und Handlungen verstanden. Wesentlich aber ist er die Gesinnung, welche in dem gewöhnlichen Zustande und Lebensverhältnisse das Gemeinwesen für die substantielle Grundlage und Zweck zu wissen gewohnt ist. Dieses bei dem gewöhnlichen Lebensgange sich in allen Verhältnissen bewährende Bewußtsein ist es dann, aus dem sich auch die Aufgelegtheit zu außergewöhnlicher Anstrengung begründet.“ (Hegel, Rechtsphilosophie § 268)

Wer sich im „gewöhnlichen Zustand und Lebensverhältnis“ die aufgezwungene Einstellung erarbeitet, das „Gemeinwesen für die substantielle Grundlage“ zu halten, für die absolute Bedingung seiner Existenz, weil er als Deutscher nur von und durch Deutschland leben kann, der ist dann auch zu den „außerordentlichen Aufopferungen“ bereit und imstande.]

Der deutsche Mensch in seinem Drang …

Das wesentliche Mittel des deutschen Aufbruchs zur Weltmacht war, in Ermangelung anderer, die Einsatzbereitschaft des deutschen Volkes. Im deutschen Menschen sah Hitler ein ganz großartiges Potential für die nicht-wirtschaftsfriedliche Eroberung von Lebensraum. Das musste er auch, etwas anderes als das Kommando über die Leute hatte er nicht. Damit stellt sich für den Nationalsozialismus die entscheidende Frage: Wer ist ein Deutscher und was macht ihn aus? Wer ist geeignet und würdig, bei diesem anspruchsvollen Programm dabei zu sein?! Hitlers Antwort:

„Dieser Aufopferungswille zum Einsatz der persönlichen Arbeit und, wenn nötig, des eigenen Lebens für andere ist am stärksten beim Arier ausgebildet. Der Arier ist nicht in seinen geistigen Eigenschaften an sich am größten, sondern im Ausmaße der Bereitwilligkeit, alle Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Der Selbsterhaltungstrieb hat bei ihm die edelste Form erreicht, indem er das eigene Ich dem Leben der Gesamtheit willig unterordnet und, wenn die Stunde es erfordert, auch zum Opfer bringt. … das innerste Wesen jeder Organisation beruht darauf, daß der einzelne auf die Vertretung seiner persönlichen Meinung sowohl als seiner Interessen verzichtet und beides zugunsten einer Mehrzahl von Menschen opfert. … Die wunderbarste Erläuterung dieser Gesinnung bietet sein Wort ‘Arbeit’, unter dem er keineswegs eine Tätigkeit zum Lebenserhalt an sich versteht … aus ihr allein heraus kann man verstehen, wie so viele ein kärgliches Leben in Redlichkeit zu ertragen vermögen, das ihnen selber nur Armut und Bescheidenheit auferlegt, der Gesamtheit aber die Grundlagen des Daseins sichert. Jeder Arbeiter, jeder Bauer, jeder Erfinder, Beamte usw., der schafft, ohne selber je zu Glück und Wohlstand gelangen zu können, ist ein Träger dieser hohen Idee, auch wenn der tiefere Sinn seines Handelns ihm immer verborgen bliebe.“ (Mein Kampf S. 326 f.)

Das mag bombastisch klingen, doch Hitler beherrscht wie seine demokratischen Kollegen das elementare Politikerhandwerk: Er verlegt sein Projekt und damit seine Ansprüche an das gute deutsche Volk in selbiges hinein; er erklärt sich und sein Vorhaben zur Inkarnation dessen, was das Volk will: So sind wir, sagt der spätere Führer! Der Arier ist vielleicht nicht der Hellste – er ist nicht in seinen „geistigen Eigenschaften“ großartig –, aber in Sachen Opferbereitschaft kann ihm keiner das Wasser reichen! Das, was der Nationalsozialismus mit Deutschland vorhatte und den Deutschen abverlangte, Dienst, Opferbereitschaft, das eigene Leben im Krieg hinzugeben, damit Deutschland lebt, womit der tote Volksgenosse dann im Deutschtum weiterlebt – das liegt im Arier fix und fertig vor; der ist geradezu der Auftrag an den Staat, ihm diese, seine Lebensart zu gestatten.

Dieses Dienen, die Bereitschaft zum Opfer, die gilt nicht erst im Krieg, sondern schon im Frieden: Arbeit ist beim Faschisten eine moralische Kategorie, Arbeit ist praktizierte Selbstlosigkeit und kann, zumindest beim Arier, mit der banalen Produktion für den Lebensunterhalt nicht verwechselt werden; Arbeit, das ist der Aufbau der Nation auf Kosten derer, die sie aufbauen. Woher kennt Hitler so viel edle Gesinnung? Aus der Anschauung des wirklichen Lebens im Kapitalismus, Arbeit und Kapital sind die Arbeitsbeauftragten der Nation – in der Demokratie wie im Faschismus! Hitler führt in Sachen Arbeit wieder vor, was jeder demokratische Politiker beherrscht: Das, was er vorhat, ist im Volk als dessen Streben längst verankert. Das „innerste Wesen jeder Organisation beruht auf Verzicht“ – dass sich Leute zusammentun und zweckmäßig organisieren, um ihre gemeinsamen Interessen voranzubringen, das kann nicht sein. Faschistisch gesehen. (Zum Verhältnis deutsch – arisch vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Arier)

Irgendwo steht: „Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen!“ Dem ersten Teil hat Hitler begeistert zugestimmt – sie haben nichts, haben daher nichts zu verlieren. Sie haben auch nichts zu gewinnen, denn ein „kärgliches Leben in Redlichkeit, Armut und Bescheidenheit“ – das ist ihre Bestimmung. Darum sollten sie es gar nicht erst versuchen, sondern gleich dem Höheren dienen, dem nationalen Wesen, das größer ist als sie selbst. Ihr schönster Lohn besteht in der Ehre, als deutscher Arbeiter an Deutschland mitwirken zu dürfen. Also ist es das große Verbrechen und die Todsünde des Kommunismus, die Proletarier damit zu konfrontieren, dass da schon mehr drinnen wäre; da wäre womöglich etwas „zu gewinnen“. Sie müssten bloß einer Wirtschaftsweise eine Absage erteilen, die den Arbeitenden ein „kärgliches Leben in Redlichkeit, Armut und Bescheidenheit auferlegt“! – Soviel zum Unterschied zwischen „rot“ und „braun“.

ist eine klassische Gestalt

Was Hitler am Arier erläutert, das ist, in heutiger Diktion, die nationale Identität, damals als Rasse gefasst und gleich ins Blut naturalisiert, heute auch als Identität oder als Kultur bekannt. Das, was einen Menschen ausmacht, was sein Wesen definiert, das ist seine Zughörigkeit zu einem national bestimmen und unverwechselbaren Haufen, als inwendige Eigenschaft: Man kann qua Natur, also durch das Blut verbürgt, gar nicht anders als mitzumachen, und zwar vor und unabhängig von jeder eigenen Entscheidung, vorgelagert vor jedem willentlichen Entschluss; das Individuum ist determiniert, bestimmt, völlig unfrei im Verhältnis zur Nation – aber bestimmt nur durch sich selbst, durch sein deutsches Wesen, durch seine eigene Art. Die Verlegung äußerlicher nationaler Ansprüche und Pflichten in die innere Natur verbürgt die bedingungslose Benutzbarkeit, indem sie gerade nicht erzwungen und aufgenötigt sein will, sondern als Naturzustand gilt: Dass der Deutsche für Deutschland ist, und zwar total, das muss kein Politiker verlangen oder erzwingen, weil das eben so ist – und das ist ihm nicht vorzuwerfen, eben weil das so ist. Es ist die Verabsolutierung nationaler Ansprüche an das Individuum. Die Vorstellung so einer nationalen Identität ist eine Gemeinsamkeit von Demokratie und Faschismus; obzwar die Bezeichnung Rasse heute politisch nicht korrekt ist. Adorno hat mal notiert: „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse“ … (Schuld und Abwehr)

Was ist los mit den Deutschen?

Mit dieser Gewissheit blickt der spätere Führer auf Deutschland und ist am Verzweifeln: Land und Leute sind in keiner Weise für dieses Aufbruchsprogramm geeignet. Der Staat ist schwach, das Volk verwahrlost bis verkommen. Egoismus statt Gemeinsinn dominiert, viele denken nur an sich und an das eigene Durchkommen. Überall „zersetzende“ Strömungen – wie Liberalismus, Hedonismus, Individualismus, erst recht Internationalismus, Kommunismus, Sozialismus, eine entartete Kultur oder auch nur Leute, die sich um Deutschland nicht kümmern. Sogar die Produktion des deutschen Menschen durch die deutsche Frau war unzulänglich.

Der Nationalsozialismus hat angesichts des Weimarer Sauhaufens auf seine Weise die Frage gestellt: „Wie ist das nur möglich?“ Denn fest steht: „So sind wir nicht!“ Angesichts der miserablen Lage der Nation, angesichts der glasklaren Konsequenzen – deutscher Freiheitskampf gegen „Versailles“ um „Lebensraum“ und „Weltmacht“ –, angesichts dessen, dass jeder anständige normale Deutsche die Welt doch genau so sehen müsste wie der Nationalsozialismus und an den deutschen Zuständen genauso leiden müsste – wie ist es da möglich, dass der Nationalsozialismus nur eine Minderheitenposition ist? Desinteresse, Defätismus, Pazifismus nach dem verlorenen Krieg, und schließlich: Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Klassenkampf, sozialistische und kommunistische Parteien – lauter eigentlich unmöglich Phänomene, zumindest in Deutschland, weil „so sind wir nicht“! Die Selbstverständlichkeit, dass der Deutsche die Welt konsequent durch die nationale Brille besichtigt, auf deutsche Interessen und Rechte fixiert ist, den Nationalismus im Blut hat und angesichts der tristen Lage an Deutschland leidet – das alles war kaum gegeben. Der spätere Führer schaut sich um und fragt: Was ist los mit den Deutschen? Was stimmt nicht mit den Deutschen? Wenn die Frage so gestellt wird, ist die Antwort schon auf Schiene. Das Deutschtum war verunreinigt und zersetzt, das bedingungslos deutsche Fühlen, Denken und Streben war ziemlich beschädigt:

„Und damit ergibt sich die Tatsache, daß zwischen uns eine nichtdeutsche, fremde Rasse lebt, nicht gewillt und auch nicht im Stande, ihre Rasseneigenarten zu opfern, ihr eigenes Fühlen, Denken und Streben zu verleugnen und die dennoch politisch alle Rechte besitzt wie wir selber.“ (Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905 – 1924 S. 88, Hrsg. E. Jäckel, nach Hecker S. 134)

Das ist er, der erste Schritt zum Völkermord, er besteht in der Identifizierung von Juden als Angehörige eines Volkes; da sind nicht einfach Individuen unterwegs, die selber oder deren Vorfahren auch so einem Monotheismus huldigen oder auch nicht – und es spielt auch keine Rolle, ob die sich selber als Juden verstanden haben. Sie sind jedenfalls Teile eines anderen Volkskörpers, eines Volkstums, eines Judentums. Wie ist es denn nun beieinander, dieses Volk bzw. diese Rasse; hier synonym zu verstehen?

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