Der große Austausch anno 2018

13.02.2024

Der große Austausch anno 2018, oder:

Das seltsame Demonstrationsverhalten von österreichischen Großstädtern:
Remigration, Minus-Zuwanderung, Deportation – wen interessiert das, wann und weswegen?!

Folgt heute eine kleine Leseübung; vielen Dank an den „Standard“, weil dessen Archiv online zugänglich ist. (Als Quelle ist der jeweilige link angegeben.)

„Zehntausende demonstrierten in österreichischen Städten gegen Rechtsextremismus
In Wien, Innsbruck und Salzburg fanden Großkundgebungen statt, um die ‘Demokratie zu verteidigen’ …
Vorbild der Kundgebungen waren ähnliche Proteste am vergangenen Wochenende in Deutschland. In zahlreichen Städten gingen dort Hunderttausende gegen rechts auf die Straße. Auslöser dafür waren Enthüllungen des Recherchezentrums ‘Correctiv’ über ein Treffen von Rechtsextremisten am 25. November in Potsdam, an dem unter anderem AfD-Politiker sowie der frühere Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, teilgenommen hatten. Unter dem Schlagwort ‘Remigration’ wurde dabei über Pläne zur Vertreibung von Millionen Menschen mit ausländischer Herkunft aus Deutschland beraten.“ (26.01.2024)
https://www.derstandard.at/story/3000000204889/tausende-demonstrierten-in-oesterreichischen-staedten-gegen-rechtsextremismus

Folgt eine kleine Zeitreise. Wir kehren zurück in das Österreich des Jahres 2018. Da begab sich folgendes:

„Nach dem türkischen Verfassungsreferendum im März des vergangenen Jahres flammte in Österreich eine Debatte über mögliche illegale Doppelstaatsbürgerschaften von Bürgern türkischer Abstammung auf. (Der) Leiter der Wiener MA 35 (Magistrat für Einwanderung, Staatsbürgerschaft und Personenstand) … (hat) bestätigt, dass in vier Fällen die Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. Ein Bescheid sei bereits rechtskräftig … die bislang drei anderen Fälle in Wien sind in Beschwerde gegangen. Jetzt ist das Landesverwaltungsgericht dafür zuständig. Österreichweit sind bisher rund 30 Aberkennungsbescheide verschickt worden. Nach dem Referendum hatte die FPÖ einen Datenstick mit rund 100.000 Namen von Türken in Österreich an das Innenministerium übermittelt, 44.000 davon leben in Wien. Anfang August sprach Parteichef Heinz-Christian Strache dann von 20.000 ‘Scheinstaatsbürgern’, die wegen der Teilnahme an dem Referendum die österreichische Staatsbürgerschaft verlieren müssten. … Wie die ‘Presse’ nun berichtet, prüft die MA 35 in Wien derzeit 12.000 Einträge. Rund 1.500 österreichische Staatsbürger türkischer Abstammung haben in den vergangenen Monaten einen Brief von der MA 35 bekommen, in dem sie aufgefordert werden, einen ‘vollständigen Auszug aus dem türkischen Personenstandsregister’ vorzulegen, dem zu entnehmen ist, ob und wann sie die türkische Staatsbürgerschaft erworben haben. Dem Bericht zufolge hat die MA 35 dafür ihr Personal um 26 Mitarbeiter aufgestockt. Zum besseren Verständnis: Doppelstaatsbürgerschaften sind in Österreich grundsätzlich nicht erlaubt (Infos zu den Ausnahmen gibt es hier). Wer die österreichische Staatsbürgerschaft erhält, muss jede andere zurücklegen. Danach gibt es aber laut türkischem Recht die Möglichkeit, die türkische Staatsbürgerschaft zurückzuerhalten. Da die türkischen Behörden in dieser Angelegenheit nicht mit Österreich kooperieren, ist die Zahl der auf diesem Weg entstandenen Staatsbürgerschaften nicht bekannt. Entsprechende Anfragen an die türkische Botschaft werden nicht beantwortet …“ (29.3.2018)
https://www.derstandard.at/story/2000077024460/erste-tuerkische-doppelstaatsbuergerschaften-aberkannt

Zur Erläuterung:
Ein Verfassungsreferendum in der Türkei im Jahr 2017 über die Kompetenzen des Staatspräsidenten hat, wie so oft bei türkischen Wahlgängen, ein grundverkehrtes Ergebnis gebracht, aus „unserer“, aus europäischer Sicht jedenfalls. Wahlberechtigte Türken in Österreich haben demnach ebenfalls grundverkehrt abgestimmt. Das genügt, um die Türkenfrage aufzuwerfen, es ereilt sie die Rache der Politik. „Wir Türken wählen, wie wir wollen“ – das kommt nicht in Frage, erstens in der Türkei nicht und zweitens in Österreich erst recht nicht, denn „unsere“ Türken haben zu wählen, wie „wir“ wollen, und falls nicht, sind sie dran! Nachdem sich das individuelle Wahlverhalten nicht kontrollieren lässt, sind mit dem Ergebnis die Türken in Österreich ganz generell in der Verantwortung. Und zwar unabhängig vom tatsächlichen staatsbürgerlichen Status, denn wer falsch votet, muss wohl illegal hier sein; der Verdacht gegen alle erreichbaren Betroffenen steht, denn wer in einer demokratischen Abstimmung für Erdogan stimmt, gehört klarerweise nicht nach Österreich:

„FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hat in der Debatte um illegale türkische Staatsbürgerschaften die hier lebenden Erdogan-Anhänger aufgefordert, Österreich zu verlassen. ‘Tun Sie also sich und Ihrem Präsidenten einen Gefallen, und kehren Sie in ihr Land zurück’, postete der Oppositionspolitiker am Montag auf Facebook einen zynischen Beitrag – 786 Wörter lang.“ (24.04.2017)
https://www.derstandard.at/story/2000056426977/tuerkische-waehlerlisten-laender-warten-noch-auf-daten

„Nach Gerichtsurteilen droht Tausenden die Ausbürgerung …
In den nächsten Monaten müssen viele Österreicher mit türkischen Wurzeln mit einer für sie gravierenden Entscheidung rechnen. … Auf die Frage, wie viele Fälle in den kommenden Monaten entschieden werden, sagt der Leiter der Wiener Behörde für Staatsbürgerschaftsangelegenheiten (MA 35) nur so viel: ‘Es sind sehr viele.’
Wenn ein Mensch von einem Tag auf den anderen den Boden unter den Füßen verliert, plötzlich keinen Job mehr hat, keine Einkünfte, vielleicht sogar keine Wohnung, jedenfalls keine Perspektive, dann spricht man von einem Schicksalsschlag. Was aber, wenn dieser Schicksalsschlag ein Verwaltungsakt ist, der solide auf dem Boden der Gesetze steht? Was, wenn der Betroffene, womöglich ohne sich der Folgen bewusst gewesen zu sein, aber doch auch selbst ein wenig Schuld daran trägt?
Zahlreiche Menschen, die vor langer Zeit eingewandert sind, müssen befürchten, bald ihre Existenz zu verlieren, weil sie nicht mehr österreichische Staatsbürger sind. Die Behörden, die diese Entscheidungen treffen, handeln nicht willkürlich, sondern gesetzeskonform. Man kann ihnen die persönliche Tragik der Einzelfälle nicht vorwerfen. Man kann es aber den politisch Verantwortlichen vorwerfen, dass sie für die Welle an Ausbürgerungen, die nun droht, keine adäquaten Vorkehrungen getroffen haben. Und man kann sie dafür kritisieren, dass sie im Globalisierungszeitalter immer noch stur daran festhalten, dass Menschen nicht Bürger zweier Staaten sein können.“ (08.08.2018)
https://www.derstandard.at/story/2000084998173/das-schicksal-alsverwaltungsakt

„Von einem Moment auf den nächsten fühlte sie sich wie eine Ausländerin in ihrer eigenen Heimat, erzählt die Austrotürkin. Vor etwas mehr als einem Jahr bekam die 40-Jährige einen Anruf von einem Journalisten: Sie stehe auf dieser Liste, hat der ihr gesagt. Auf der Liste der illegalen Doppelstaatsbürger. Zuerst habe sie das nicht ganz ernst genommen. Ihre Eltern stammen aus der Türkei, sie selbst wurde in Mittelanatolien während eines Türkeibesuchs geboren, doch seit sie denken kann, lebt sie in Österreich. Sie hatte nie einen türkischen Pass, sagt sie, hat in der Türkei heute nicht einmal mehr Familie. ‘Wenn ich auf Urlaub hinfahre, zahle ich für ein Visum.’ … Ihre Erklärung, warum sie in der mutmaßlichen türkischen Wählerevidenz verzeichnet ist, die jemand der FPÖ und Peter Pilz zugespielt hatte und die von den Freiheitlichen an die Behörden weitergegeben wurde: Vielleicht wurden hier alte Daten herangezogen. Ihre Eltern bekamen in den Neunzigerjahren die österreichische Staatsbürgerschaft. Bis dahin war sie im türkischen Pass ihrer Mutter verzeichnet. ‘Es kann doch nicht sein, dass eine inaktuelle Liste unbekannten Ursprungs solche Konsequenzen hat.’ Seit die Verwaltungsgerichte in Wien und Vorarlberg nun in ersten Urteilen bestätigt haben, dass Personen, deren Namen auf der Wählerevidenzliste stehen, die österreichische Staatsbürgerschaft abzuerkennen ist, wartet sie auf einen Brief der Behörden. In der türkischen Botschaft habe sie bereits versucht, sich zu informieren. Um dort einen Termin zu vereinbaren, hätte sie aber eine türkische Reisepassnummer angeben müssen – die habe sie aber nicht. ‘Die Politik muss eine humane Lösung finden.’ Im Innenministerium wird davon ausgegangen, dass es nach der Aberkennung der Staatsbürgerschaft in diesen Fällen jedenfalls nicht zu Ausweisungen kommen wird. Bei unbescholtenen Personen, die über einen längeren Zeitraum im Inland gelebt haben, sei das nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. AMS-Chef Johannes Kopf ist außerdem überzeugt, dass die betroffenen Austrotürken ihren Arbeitsplatz behalten könnten, wie er im STANDARD erklärt hatte. Die Grundlage dafür sei ein Assoziierungsabkommen mit der Türkei. Jedenfalls droht den Ausgebürgerten eine Rückabwicklung etwaiger Kaufverträge – etwa solcher von Immobilien. Die FPÖ will nun dafür sorgen, dass illegale Doppelstaatsbürger nach ihrer Aberkennung auch keine Arbeitserlaubnis mehr haben. FPÖ-Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch hält Kopf vor, ‘illegal Aufhältige quasi’ zu amnestieren. Sie stellt infrage, ob das Assoziierungsabkommen ‘in Bausch und Bogen all unsere aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen einfach so aushebeln kann’.
Gudenus: ‘Volle Härte des Gesetzes’
Der geschäftsführende freiheitliche Klubchef Johann Gudenus präzisiert im Gespräch mit dem STANDARD: ‘Falls dieses Assoziierungsabkommen tatsächlich Menschen schützt, die sich einen österreichischen Pass erschlichen haben, muss man darüber nachdenken, wie man damit weiter verfährt und es gegebenenfalls optimieren.‘ Gudenus fordert, dass ‘Scheinstaatsbürger’ die ‘volle Härte des Gesetzes’ zu spüren bekommen. ‘Wir leben nicht in Erdoganistan, wo der Rechtsstaat gedreht und gewendet werden kann, wie man es gerade braucht.’“ (10.08.2018)
https://www.derstandard.at/story/2000085141340/doppelstaatsbuerger-fpoe-klubchef-gudenus-will-abkommen-mit-tuerkei-ueberdenken

„Tausende Prüfverfahren in ganz Österreich
Ausgelöst wurde die Prüfung Tausender mutmaßlicher Doppelstaatsbürger durch Listen, die den Behörden von der FPÖ zugespielt wurden. Allein in Wien wurden daraufhin 18.000 Prüfverfahren eingeleitet, in Oberösterreich 4.000 und in Tirol 1.900. Den Betroffenen droht in vielen Fällen der Entzug der Staatsbürgerschaft. Denn wer sich in Österreich einbürgern lässt, muss seine alte Staatsangehörigkeit zurücklegen und darf sie danach auch nicht wieder annehmen. Allerdings zeigt der Bundesländer-Rundruf auch, dass die in den angeblichen türkischen Wählerlisten enthaltenen Informationen in vielen Fällen nicht verlässlich sind. Eine Salzburgerin hatte zuletzt berichtet, von den türkischen Behörden irrtümlich als Wahlberechtigte geführt worden zu sein, obwohl sie ihre Staatsbürgerschaft schon 2003 zurückgelegt hatte.
Behördenfehler und falscher Verdacht. Einen derartigen Behördenfehler der türkischen Seite habe man auch in Vorarlberg entdeckt, heißt es im Büro des zuständigen Landesrats Christian Gartner (ÖVP). Und in der Steiermark konnten gleich 72 Personen nachweisen, dass sie zwar auf der Liste stehen, die türkische Staatsbürgerschaft aber gar nicht besitzen.“ (21.10.2018)
https://www.derstandard.at/story/2000089784755/doppelstaatsbuergerschaften-bisher-85-aberkennungen
https://www.derstandard.at/story/2000090357406/kritik-an-doppelpass-verfahren-gegen-austrotuerken

Die ganze Affäre hat sich über einige Monate, genauer gesagt bis Dezember gezogen. Mir ist nicht in Erinnerung, dass sich damals dagegen nennenswerte Proteste erhoben hätten. Jedenfalls:

„In der Causa um mutmaßlich illegale Doppelstaatsbürger türkischer Abstammung liegt nun eine richtungsweisende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) vor. Ein Wiener türkischer Abstammung, dem die österreichische Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, hatte sich mithilfe seines Anwalts an den VfGH gewandt und dort recht bekommen. … Die Entscheidung könnte Präzedenzwirkung für zahlreiche ähnliche Verfahren haben.
In allen Instanzen gescheitert. Der Wiener hatte versucht, gegenüber den Behörden nachzuweisen, dass er kein türkischer Staatsbürger ist. Allerdings sei es ihm nicht gelungen, sich bei den türkischen Behörden die dafür nötigen Dokumente zu besorgen. Die Wiener Behörden glaubten dem Mann daher nicht und gingen davon aus, dass er sich nach seiner Einbürgerung in Österreich wieder in der Türkei hat einbürgern lassen – dass er also unrechtmäßigerweise ein Doppelstaatsbürger sei. Der Mann wurde ausgebürgert, beschwerte sich gegen diese Entscheidung vor Gericht, verlor aber bislang in allen Instanzen. Nun gibt der Verfassungsgerichtshof dem Mann recht und findet klare Worte zu der umstrittenen Namensliste, die zum Auslöser der massenhaften Prüfverfahren in allen Bundesländern wurde.
Die Liste, so heißt es in der VfGH-Entscheidung … sei ‘nicht authentisch’. Der Datensatz, der von den österreichischen Behörden als Auszug einer türkischen Wählerevidenz angenommen wird, sei ‘hinsichtlich seiner Herkunft und des Zeitpunktes seiner Entstehung nicht zuordenbar’. Es sei daher ausgeschlossen, dass die Namensliste ein taugliches Beweismittel darstellen könne. Zudem sei es verfassungswidrig, dass Behörden es auf die Betroffenen überwälzen, sich in den Feststellungsverfahren de facto freizubeweisen und darzulegen, dass sie keine türkischen Staatsbürger sind. Tausende Feststellungsverfahren sind derzeit noch bei den Einbürgerungsämtern der Bundesländer anhängig.“ (Standard 17.12.2018)
https://www.derstandard.at/story/2000094161183/tuerkische-doppelstaatsbuerger-verfassungsgericht-stoppt-passentzug

Zwischenfazit:
Das, was in der berühmten Rechtsextremisten-Konferenz in Potsdam angedacht wurde, das ist in Österreich 2018 unter türkis-blau (Kanzler Kurz, Innenminister Kickl) praktisch angegangen worden, nämlich der Entzug der Staatsbürgerschaft als Vorbedingung zur „Remigration“. Was man dem ebenfalls entnehmen kann: Das „Narrativ“, durch ordentliche Integration und sorgfältige Aneignung hiesiger Werte könnten sich Ausländer die Existenzberechtigung in Österreich schon verdienen, das ist erstunken und erlogen – was in solchen Fällen zählt, ist die Rechtslage, und die kümmert sich nicht um die individuellen Anliegen, Interessen, Verhaltensweisen, politische Einstellungen etc., da wird der Mensch gnadenlos unter die für sein jeweiliges Kollektiv gültige Rechtslage subsumiert. Woran man ebenfalls erinnert wird, das ist die Abneigung von Populisten aller Couleur gegen die Gewaltentrennung – dass also ein Verfassungsgericht einer Regierung gewisse Maßnahmen untersagt, und aus dieser Position auch einem „Volkskanzler“ in die Parade fahren könnte.

Zur Wiederholung:
Was die Konferenz angedacht hat, das wurde in Österreich 2018 angegangen. Proteste dagegen gab es nicht oder kaum. Notorische Kritiker der Regierung haben sich schon zu Wort gemeldet, etwa Peter Pilz, der bei der Gelegenheit gleich mit sich selber abrechnet:

„Unser Staatsbürgerschaftsgesetz ist eindeutig: Wer unsere Staatsbürgerschaft erwerben will, muss seine bisherige zurücklegen. Nicht nur als Abgeordneter plädiere ich für die Einhaltung unserer Gesetze. Der österreichische Gesetzgeber verlangt von neuen Bürgern eine Entscheidung. … Wirst du Bürger des österreichischen Rechts- und Verfassungsstaates werden, oder willst du Bürger der neuen islamischen Republik Türkei bleiben? Erdogan will seine Türken in ihren neuen Heimatländern isolieren. Wir wollen sie integrieren. Das eine schließt das andere aus. Daher verlangen wir Entscheidungen. Für den demokratischen Verfassungsstaat mit Gleichberechtigung, Trennung von Staat und Religion und den großen Freiheiten von Meinung, Versammlung und Presse. Dazu gehört auch der Respekt vor unseren Gesetzen. Wer die neue Staatsbürgerschaft mit einem Bruch des Staatsbürgerschaftsgesetzes beginnt, hat das nicht verstanden. Jede falsche Toleranz gegenüber dieser Verwaltungsübertretung ist eine Einladung, andere, wichtigere Gesetze zu missachten. … Werden wir jetzt Rechte, weil wir immer öfter an unseren alten Antworten zweifeln? Denken wir an die Alternative: Dann heißt es ‘Türken raus!’ und nicht ‘Integration und klare Regeln’. Ich will unsere Zukunft nicht der nationalistischen Rechten und unsere Türken nicht Erdogan überlassen. Deshalb beginne ich Diskussionen, die für uns alle schwierig sind, nicht nur, wenn es um Staatsbürgerschaften geht. Persönlich bleibe ich Gutmensch. Mit immer weniger Illusionen. Aber die verliere ich lieber als das Fundament unserer Freiheit: den europäischen Verfassungsstaat.“ (23.04.2017)
https://www.derstandard.at/story/2000056390053/staatsbuergerschaften-illusion-und-integration

Pilz ist nach wie vor ein „Gutmensch“, aber nur als irrelevante „persönliche“ Meinung – in den Forderungen an „unsere(!) Türken“ und bezüglich der Konsequenzen bei Fehlverhalten stimmt er mit der türkis-blauen Regierung überein. Ein paar Türken stimmen „falsch“ ab, und schon ist „unsere Zukunft“ bedroht, und gehört durch Deportation verteidigt? Dem Möchtegern-Machthaber ist völlig selbstverständlich, dass politische Differenzen nur in einer Art und Weise ausgetragen werden können: Befehl – Gehorsam – und Rausschmiss, bei Insubordination! Reife Leistung!

Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende:
Es liest sich, als hätte die damalige Regierung Leute wie den Verfassungsstaatsfanatiker Pilz vorführen wollen. Zeitnah zum Gudenus-Spruch – „Wir leben nicht in Erdoganistan, wo der Rechtsstaat gedreht und gewendet werden kann, wie man es gerade braucht.“ – klärte die Regierung darüber auf, wer hier den Rechtsstaat dreht und wendet, wie man „es gerade braucht“;  wo also der rechtsstaatliche Hammer hängt:

„Ein Zeitungsbericht über den Gesetzesentwurf zur Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler hat für Verwirrung gesorgt. … Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Verleihung der Staatsbürgerschaft würden ‘frühestens 2019/2020 gegeben sein’, teilte das Büro (des Regierungssprechers) weiter mit. … Er (Sprecher des Innenministeriums) betonte hingegen erneut, dass Wien keine Schritte ohne die Zustimmung Roms und Bozens setzen wird. … Die italienische Regierung reagierte empört auf den Bericht. … Sollten die Informationen der ‘Tiroler Tageszeitung’ bestätigt werden, wäre der Gesetzentwurf aus italienischer Sicht eine ‘unangebrachte und grundsätzlich feindliche Initiative’“ … (Standard 23.07.2018)
https://www.derstandard.at/story/2000083992394/doppelstaatsbuergerschaft-regierung-dementiert-gesetzesentwurf

„Der vorliegende Gesetzesentwurf soll Grundlage für die Verhandlungen mit Rom sein. Voraussetzung sei das Einvernehmen mit der italienischen Regierung, hatte es immer wieder geheißen. … Die wichtigsten Änderungsvorschläge sind:
Das Erlangen der Staatsbürgerschaft für Südtiroler soll günstiger werden und rund 600 Euro kosten.
Südtiroler Doppelstaatsbürger, die ihren Hauptwohnsitz in Österreich haben, müssten zum Bundesheer.
Sozialleistungen sollen jene Doppelstaatsbürger erhalten, die ihre Wohnadresse in Österreich haben.
Einen Anspruch auf den Doppelpass sollen alle Südtiroler haben, die der deutschen oder ladinischen Sprachgruppe angehören oder sich bei der Sprachgruppenerklärung dazu zugehörig erklärt haben.
Bei Nationalrats- und Europawahlen wären Südtiroler mit einem Doppelpass in Österreich wahlberechtigt.
Die italienische Regierung hatte sich zuletzt ablehnend gegenüber der Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler gezeigt. In Südtirol leben rund 500.000 Menschen (Stand 2017). Von ihnen erklärten sich rund 70 Prozent als deutschsprachig, rund 26 Prozent als italienischsprachig und rund vier Prozent als ladinischsprachig (Stand 2011). Dementsprechend hätten 74 Prozent, also etwa 340.000 Personen, Anspruch auf den Doppelpass und somit auch auf Sozialleistungen.“ (Standard 07.09.2018)
https://www.derstandard.at/story/2000086884906/gesetzesvorschlag-fordert-sozialleistungen-fuer-suedtiroler

Fazit:
Die damalige Bundesregierung – zur Erinnerung: türkis-blau, ÖVP und FPÖ – war 2018 also unzufrieden mit ihrem Volk, und wollte sich ein neues zurechtschustern, nach rassischen Kriterien: Die (türkischen) Minderwertigen raus, die (südtiroler) Wertvollen herein. So war er angedacht bzw. so wurde er ein Stück weit umgesetzt, der „große“ oder wenigstens der mittlere „Austausch“, der gewünschte Austausch nämlich. Gescheitert, zumindest als ganz großer Wurf, ist das Vorhaben am Verfassungsgerichtshof und an Italien. Das damals übliche Kriterium des damaligen österreichischen Kanzlers für die Wertvollen – die, „die ins System einzahlen“ – gibt die Distinktion nicht her: Die Türken in Österreich zahlen ja, die Südtiroler in Italien nicht.

Das führt zurück zur Anfangsfrage:
Das seltsame Demonstrationsverhalten von österreichischen Großstädtern, oder: Remigration, Minus-Zuwanderung, Deportation – wen interessiert das, wann und weswegen?! Wieso wird 2024 demonstriert, angesichts von Vorhaben, die 2018 unter der türkis-blauen Regierung bereits in die Praxis umgesetzt wurden, und die damals kaum Proteste provoziert haben? Warum also? Weil die Massenproteste in Deutschland in Österreich einen nationalpatriotisch-kritischen Ehrgeiz provoziert haben, so nach dem Muster: Da müssen auch wir dabei sein, das können wir auch? Oder: Weil 2018 eine demokratisch gewählte Regierung am Ruder war, und das „kritische“ Österreich wegen eines Demokratiefimmels immer nur für, aber nie gegen die Demokratie demonstrieren kann? Oder: Weil die Türkenhetze 2018 auch das „kritische“ Österreich überzeugt hat? Weil aktuell die Geschichte mit der „Remigration“ als „Enthüllung“ eines investigativen Journalismus aufgeblasen wurde, auch wenn das alles ein alter Hut ist: „Das Wort ‘Negativzuwanderung’ wurde von den Juroren der Aktion Österreichisches Deutsch der Universität Graz zum ‘Unwort des Jahres’ 2005 gewählt.“ (wikipedia), und die „Minus-Zuwanderung“ wird von der FPÖ schon seit je vertreten?! Selten blöd und abwegig in dem Zusammenhang auch die üblichen Fragen an Kickl und die FPÖ, wie sie zu den „Identitären“ oder zu besagter Konferenz stehen – von denen wurden 2018 die dort diskutierten Maßnahmen schon umgesetzt! Um Antwort wird gebeten …

Eine kleine Ergänzung zu den Protesten in Deutschland:
In ganz Europa ist die frühere rechtsextreme Gleichsetzung der Asyl- und Flüchtlingspolitik mit illegaler Migration inzwischen durchgesetzt, ist in der Mitte der Politik angekommen – klar, „unsere“ braven Ukrainer sind ausgenommen, wenigstens derzeit. Dennoch werden auf Basis eines „kaputten“ Asylsystems noch immer Anträge entgegengenommen und manche sogar positiv beschieden! Angesichts dieser Lage hat sich die Potsdamer Konferenz eine durchaus folgerichtige Frage gestellt: Was machen „wir“ denn nun mit denen, die sich auf Basis der bisherigen, einer im Grunde genommen längst illegalen, weil kaputten Rechtslage in Europa eingeschlichen und eingenistet haben?! Was fällt „uns“ denn da ein?

Ob die Potsdamer Diskutanten einen angepeilten „Musterstaat“ in Nordafrika hinkriegen, wird sich zeigen. Muss ja auch nicht sein. Demokratische Institutionen von ganz anderem Gewicht arbeiten schon daran: Vielleicht tut es auch Ruanda, etwas weiter südlich, oder Albanien, ein Stück weiter nördlich, immerhin in Europa. Die Demokraten haben viel zu tun, und sie packen es an. Und die Rechten positionieren sich in Potsdam – wieder mal – als Avantgarde. Aber eines wird ihnen derzeit in aller Deutlichkeit demonstriert: Passdeutsche remigrieren – das geht gar nicht. Das wären eindeutig die Falschen. Wenn sie doch der deutsche Staat schon als die Seinen anerkannt hat! Nicht der „Mensch“ allgemein, der – amtlich zertifizierte – deutsche Mensch ist also auf den Massendemonstrationen das Maß aller demokratischen Humanität. Komisch – das sehen die Rechten nämlich genau so. Deswegen wollen sie selektieren, wem diese Ehre zusteht, und wem nicht. Die deutsche Demokratie ist dabei, wie es der Verfassung entspricht, als Täter verplant …

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Thema:Politik
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