Afro-American Slave Songs, neu interpretiert
43. Sendung (Erstausstrahlung: Juli 2012)
Afro-American Slave Songs, neu interpretiert
Sklavenlieder bilden seit jeher die Grundlage der afro-amerikanischen Musik in all ihren Verästelungen. Bei dieser Sendung geht es um einige Neuansätze der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit, das uralte Material der Sklavenlieder der Afro-Amerikaner zeitgemäß zu interpretieren. Für die historische Beurteilung des Jazz ist ein Blick auf die afro-amerikanischen Volksliedtraditionen von großer Bedeutung. Diese werden zu Recht als Vorläufer der heutigen Black-Music-Formen angesehen, da sie die Elemente im Charakter und in der Ausführung enthalten, die auch im modernen Jazz und Blues wiederzufinden sind. Man unterscheidet im Wesentlichen zwischen zwei Gruppen von negroiden Folksongs: Einerseits die weltlichen Slave Songs oder Chantings und andererseits die religiös orientierten Kirchenlieder wie Spirituals und Gospels aus der afro-amerikanischen Musikkultur. Entstanden sind diese Lieder und Rhymes im Süden der USA. Mit Beginn der Sklaverei finden wir Elemente dieser Traditionen bereits vor. Die weltlich orientierten Lieder sind zum großen Teil Arbeitslieder oder worksongs gewesen. Hier unterscheidet der verstorbene Musikforscher Alfons M. Dauer zwischen zwei Vorformen, den sogenannten calls, oder bluesigen shouts und den moans. Die calls sind ihrem Ursprung nach afrikanisch und dienten angeblich der Übermittlung von Nachrichten. Diese Melodiefloskeln wurden in der freien Form vorgetragen und haben somit eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Vortrag von Blues- und Gospel-Sängern. Die moans sind in der Form von gleichem Charakter, unterscheiden sich aber durch expressiven Ausdruck im vokalen Vortrag. Diese beiden Formen sind die Vorformen der später entstehenden worksongs. Bei den worksongs ist die Form schon konkreter geworden, die Texte sind festgelegter und beziehen sich konkret auf geschichtliche Ereignisse. Die Inhalte und Themen der Texte sind unterschiedlich, jedoch meist persönlicher Natur. Es gibt einen Vorsänger, der gekennzeichnet ist durch Improvisationsgabe, und einer Gruppe, die entweder begleitet oder auf die Melodien antwortet. Diese Lieder dienten im Grunde der Arbeitskoordinierung. Ein weiterer Schritt in der Entwicklung sind die sog. Balladen. Diese narrativ vorgetragenen und komplexeren Lieder, die teilweise sehr lang sein können, stellen eine Vermischung mit den schottischen und irischen Balladen des 18. und 19. Jahrhunderts dar. Diese frühen Folksongs münden in den Blues, zumindest ist ihre Nähe zu dieser Form in Ausdruck und Charakter vorhanden. Der Blues entstand im späten 19. Jahrhundert oder sogar früher, genau weiß man das nicht. Viele Kritiker bezeichnen den Blues als die “afrikanischste“ Form, weil in ihm die Merkmale der frühesten afro-amerikanischen Musik zu erkennen sind: mannigfaltige Improvisationsmöglichkeiten beim Vortrag, aber doch innerhalb einer festgelegten harmonischen und rhythmischen Basis und Refrain-artige Struktur, wie der Priester oder Prediger in einem Sermon. Die Entwicklungsgeschichte der gesamten regionalen Volksmusik in Nordamerika wird vornehmlich durch zwei Inspirationsquellen gespeist, einerseits europäische Kunst- bzw. Kirchenmusik und andererseits bodenständige Originalität der indigenen und einheimischen Bevölkerungen aus verschiedenen ethnischen Hintergründen und Kulturen. Negro Spirituals hingegen bezeichnet verschiedene Typen religiöser amerikanischer Negerlieder im 19.Jahrhundert ausschließlich in Gebieten englischer Sprache und protestantischer Religion. Die geistlich oder religiös orientierten Lieder, die man Spirituals nennt, sind durch die Bekehrung der Sklaven zum Christentum durch Methodisten und Baptisten entstanden. Es gibt wenige Berichte aus der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg, und die erste gedruckte Sammlung mit Spirituals Slave Songs of the United States kam 1867 heraus. Negro-Spirituals wurden vom Inhaltlichen her unter den Schwarzen sogar als Lieder der Befreiung der Sklaven aufgefasst. Der Einfluss der Hymnen der Protestanten auf die Spirituals kann als groß angesehen werden. Trotzdem ist hier von Bedeutung, dass “der Neger dieses Material gründlich umgearbeitet hat und ihm ein starkes Gepräge gab“ (Arrigo Polillo). Hier zeigt sich, dass die Improvisation, auch schon in diesen Vorformen, zum Musizierstil der Schwarzen gehörte. “Das Wesen eines Spirituals ist unbegrenzte Variationsfähigkeit, und so kann man sagen, dass es nur in dem Augenblick, in welchem es gesungen wird, tatsächlich existiert.“ Der Blues etwa ist eine ursprünglich afro-amerikanische Musikart, die, soweit man weiß, keine direkten europäischen oder afrikanischen Vorbilder oder Vorläufer hatte, und unter den verschleppten afrikanischen Sklaven erst in der Neuen Welt entstand und verbreitet wurde. Als die beiden Musiktraditionen aus Europa und Afrika allmählich verschmolzen, um letztendlich zum Jazz und Blues zu werden, sangen die afro-amerikanischen Unterschichten Kirchen-, Sklaven-, Landarbeiter- und Sträflingslieder, alte worksongs und chaingang songs, die von ihrem Leid und Schmerz erzählten und erfahrene Lebensgeschichten und Erinnerungen beeinhalten. Es war schon eine zeitlose Tradition bei harter Feldarbeit wie bei der Ernte von Baumwolle im Chorus zu singen, nun aber brauchte der/die Feldarbeiter/-innen seine/ihre Bewegungsabläufe nicht mehr stumm, sondern in Einstimmung mit den anderen Kumpeln abstimmen. Ihre Hollers bzw. Arhollies beruhten auf einen rhythmisierten Ruf (shout) und Antwort (call) Prinzip, das sehr eindringlich aber auch furchtbar monoton klang. Ein Meilenstein in der Erforschung der nordamerikanischen Sklavenlieder war die erste Anthologie von William Francis Allen, Charles Pickard Ware und Lucy McKim Garrison, welche 1867 in New York erschien. Sie bildete die Grundlage vieler Gospel- und Volkslieder. Der negroide Blues wurde überwiegend im Süden der USA auf dem Lande ausschließlich für das farbige Publikum gesungen. Erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges verbreitete sich der originäre und primitive Country Blues nach Norden, als viele Schwarze aus dem Süden in den Norden der Vereinigten Staaten wanderten, um Arbeit, Bildung und bessere Aufstiegschancen zu suchen. Eine härtere Version des städtischen Urban bzw. Chicago Blues bzw. der modifizierte Rhythm & Blues (R&B) entstand sodann in den Ghettos und Barrios der amerikanischen Großstädte und dieser Stil war eine Kombination aus Jump, Bop, Soul, Funk, Rap, Latino, Salsa und anderen Pop-Elementen mit sexuelleren und politischeren Inhalt, aber immer noch im Format der Blues-Schemata. Dieses stellt nach wie vor eine Voraussetzung für heutige Jazzmusiker dar.
Musikbeispiele:
Leon Bibb: I Am Free (Leon Bibb), rec. 1969
Leon Bibb: Tol‘ My Captain (traditional), rec. 1960
Leon Bibb: Another Man Done Gone (traditional), rec. 1960
Roy Brooks Ensemble: The Free Slave (Roy Brooks), rec. 1970
Matana Roberts: How Much Would You Cost? (Matana Roberts), rec. 2011
Josephine Premice: Harriet Tubman (aus: The Dream Awake), rec. 1968
Mike Westbrook: Let The Slave (William Blake/Adrian Mitchell), featuring Phil Minton (voc), rec. 1980
Roland Rahsaan Kirk: Volunteered Slavery (Roland Kirk), rec. 1969
Abbey Lincoln/Max Roach: Driva‘ Man (Max Roach/Oscar Brown Jr.), rec. 1960
Abbey Lincoln/Max Roach: Prayer/Protest (aus: Freedom Now Suite), rec. Oslo 1968
Dane Bellany: Complexium (Aime Cesaire/Dane Bellany), rec. 1975
Gestaltung & Am Mikrofon: Helmut Weihsmann
Tontechnik & Produktion: Gernot Friedbacher
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