A – Z: 80 Jazz vom Feinsten mit Benny Goodman 1
Bei Mir Bist Du Schoen
Tonaufzeichnungen nehmen im Jazz eine doppelgesichtige Position ein. Auf der einen Seite sind sie aus der Jazzgeschichte nicht wegzudenken, denn gäbe es sie nicht, dann hätte die Welt außerhalb der USA wohl kaum jemals erfahren, dass es so etwas wie Jazz gibt. Auf der anderen Seite wurden Schallplatten früher nahezu ausschließlich im Studio aufgenommen, und auch heute noch entsteht ein großer Teil von ihnen dort. Der Hörer kann an Hand einer solchen Aufnahme einen stattgehabten künstlerischen Entwicklungsprozess konstatieren, er kann ihn vielleicht auch nachvollziehen, aber nicht unmittelbar miterleben.
Der Jazzfreund in Gottes eigenem Land hatte noch eine andere Möglichkeit: er konnte sich in der Frühzeit des Radios, als Schallplattensendungen technisch noch nicht durchführbar waren, Live-Übertragungen anhören. Sein europäischer Artgenosse hatte diese Möglichkeit kaum; es gab zwar auch in unseren Breiten Jazzprogramme, aber weder in Regelmäßigkeit noch in Qualität mit; „drüben“ zu vergleichen – die Musiker außerhalb der USA waren damals bestenfalls geschickte Imitatoren. Wer etwa die einschlägige Literatur nach Informationen über die Swing-Ära in Amerika durchsucht, stößt bei den Berichten der und über die Jazzmusiker von damals immer wieder auf den Rundfunk. Die Karriere großer richtungweisender Stars wie Count Basie, Duke Ellington, Benny Goodman oder Fats Waller war wohl auch, aber nicht vorwiegend auf Schallplatten aufgebaut, mindestens ebenso wesentlich war dafür das Radio.
Im Radio zu spielen hieß aber damals automatisch, live zu spielen — und das galt nicht nur für den Jazz, sondern auch für alle anderen Bereiche dieses Mediums. Manchmal begegnet man uralten Leuten, die darüber murren, das Radiohören mache heutzutage gar keinen Spaß mehr; „alles ist nur Konserve“. Die haben recht. Die haben diese Ära noch erlebt.
Im Verlauf der 30er Jahre wurden die technischen Voraussetzun¬gen geschaffen, im Radio einerseits Schallplatten zu senden, andererseits — ebenfalls nach dem Prinzip der Schallplattenaufnahme, denn Tonbänder gab es damals noch nicht — Live-Darbietungen aufzuzeichnen. Nur überaus selten verirrten sich solche Aufnah¬men auf eine Schallplatte; die Regel war hier nach wie vor das Studio.
Heute sind Live-Darbietungen auf Schallplatte so selbstverständ¬lich, dass man gar nicht mehr besonders darüber nachdenkt. Und noch etwas anderes ist heute selbstverständlich: der Begriff des „Jazzkonzerts“. In den ersten drei Jahrzehnten dieses Jahrhun¬derts musste man in Lokale gehen, wo getanzt und getrunken wurde, wenn man Jazz live hören wollte; auf den Gedanken, Jazz für ein Publikum zu spielen, das nichts anderes tat als dazusitzen und zuzuhören, wäre niemand gekommen. Als 1937 erstmals jemand mit einem derartigen Projekt liebäugelte und ankündigte, er wolle in der New Yorker Carnegie Hall ein Konzert mit dem damals ungemein populären Benny Goodman Orchester veranstalten, bedachte man ihn branchenintern mit Hohn und Spott und der Prophezeiung eines sicheren Misserfolgs. Der Mann ließ sich je¬doch nicht beirren, das Konzert fand planmäßig am 16. Januar 1938 statt und wurde ein ungeheurer Erfolg.
Zwei besondere Attraktionen waren für diesen Abend vorbereitet. Unter dem Motto „Twenty Years of Jazz“ wurden große Momente der (damaligen) Jazzvergangenheit heraufbeschworen: eine Nummer der Original Dixieland Jazz Band wurde nachgespielt, der Cornettist Bobby Hackett machte als Gastsolist eine Verbeugung vor seinem überdimensionalen Kollegen Bix Beiderbecke, Benny Goodman erinnerte sich seines Jugendvorbildes Ted Lewis, der junge Harry James spielte ein bravouröses Solo von Louis Armstrong nach, und schließlich wurde auch die Farbenpalette Duke Ellingtons nicht vergessen — allerdings entlieh man dazu wohlweislich drei Musiker aus der Ellington-Band.
Die waren übrigens auch an der anderen Sonderattraktion beteiligt, einer Jam Session, in der Benny und einige seiner Musiker mit dem damals gerade populär werdenden Pianisten und Bandleader Count Basie zusammentrafen, der sich ebenfalls einige Musiker aus seiner Band mitbrachte – allen voran den überragenden Lester Young.
Die tragenden Säulen des Programms waren jedoch Goodmans Orchester und die Combos mit Teddy Wilson und Lionel Hampton.
Über der Bühne der Carnegie Hall hing ein einzelnes Mikrofon, von dem eine Leitung in ein Aufnahmestudio führte. Dort wurde das gesamte Konzert aufgezeichnet; eine Tatsache, die in der allgemeinen Erfolgseuphorie unterging. Auch Goodman dachte erst zwölf Jahre später wieder daran, als seine Tochter einen Karton voll alter verstaubter Acetatfolien aus einem Schrank hervorkramte und fragte: „Daddy, was ist das?“
„Das“ war, schlicht und einfach, die Basis für eines der erfolgreichsten Jazzplattenalben aller Zeiten.
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